Vorlesen ohne Text: „Die ganze Welt“ von Antonin Louchard und Katy Couprie

Ich glaube, ich bin ein ziemlicher Wortmensch und keine gute Bildervorleserin. Mit Wimmelbüchern und Bilderbüchern ohne Text habe ich so meine Schwierigkeiten: Ich habe gerne vorgegebene Worte zum Vorlesen, denn ich muss mir eh den ganzen Tag Erklärungen und Antworten auf „Warum?-Fragen“ ausdenken. Da bin ich ganz dankbar, wenn ich „nur“ vorlese und mich auf das verlassen kann, was geschrieben steht. Zudem scheint mein „Wortefindungsareal“ im Gehirn blockiert zu sein, sobald es zu viele Bilder gibt. Warum sollte ich etwas beschreiben, was man doch schon im Buch sehen kann?

Außerdem finde ich die Situation unangenehm, wenn ich meinem Kind dauernd Fragen stellen muss, um eine Unterhaltung über das Buch in Gang zu bringen: „Und was ist das? Und was siehst du da?“ Das erinnert mich zu sehr an Schulstunden. Aber wahrscheinlich ist das auch eine Altersfrage. Inzwischen stellt unser Sohn selbst viele Fragen zu Büchern. So macht das Anschauen von Bilderbüchern ohne Text inzwischen auch mir mehr Spaß. Allerdings habe ich scheinbar die Veranlagung zur Wortliebhaberin an unseren Sohn weitergegeben. Er schaut sich fast nie Bücher allein an, ohne dass ich ihm vorlese. Dafür liebt er es, sich Geschichten zu erzählen zu lassen, und zwar ohne Bücher und Bilder.

Habt ihr schon ähnliche Beobachtungen gemacht: Seid ihr Bilder- oder Wortmenschen? Und überträgt sich diese Vorliebe auf eure Kinder?

Trotzdem versuche ich ein wenig, ihm die Welt der Bilder nahe zu bringen. Mein bisheriges Lieblingsbuch ohne Text ist „Die ganze Welt“ von Antonin Louchard und Katy Couprie. Hier sind die Bilder assoziativ angeordnet, nach dem Prinzip „ein Motiv  – ein Bild“, und mit vielen verschiedenen Bildtechniken gestaltet. Das Buch beginnt zum Beispiel mit der Zeichnung eines Stuhls, auf der nächsten Seite folgen verschiedene Arten von Sitzgelegenheiten und wiederum auf der nächsten Seite ein Töpfchen, auf dem ein Kind sitzt. Dann eine Toilette, dann ein Abfluss, dann ein Schwamm, dann eine Flasche mit Spülmittel, dann ein Spülbecken, in dem eine Milchflasche schwimmt, dann Utensilien zum Frühstück, dann eine Kuh, dann eine Wiese, dann ein Bart, und so weiter und so weiter. Fotos wechseln sich ab mit Collagen, mit Zeichnungen, mit Scherenschnitten. Zahlreiche Möglichkeiten, die Welt abzubilden, werden so ausprobiert. Es macht Spaß zu überlegen, wie die Bilder zusammenhängen. Mit 256 Seiten hält dieser Spaß auch ziemlich lange an.

Manchmal sind einzelne Bilder sehr gewöhnungsbedürftig und entsprechen nicht den gewohnten Darstellungskonventionen, z.B. sind einige Szenen mit Puppen aus Pappmaché nachgestellt und fotografiert. Diese Puppen sehen sehr merkwürdig aus. Diese Merkwürdigkeiten führen aber dazu, dass man nicht nur über die Zusammenhänge zwischen den Seiten, sondern auch über einzelne Bilder nachdenkt. Hier zeigt sich auch ein großer Vorteil, den Bilderbücher ohne Text haben können: Man kann sie immer wieder anders einsetzen. Und mit dem Alter der Kinder verändert sich auch die Benutzung des Buches. Interessant ist dabei auch zu beobachten, wie sich die Vorlieben wandeln. Als mein Sohn mit 2 Jahren das Buch durchblätterte, liebte er das Foto von einem Jungen mit einer großen, roten Brille. Inzwischen überblättert er das Foto und schaut sich fasziniert die Autowerkstatt an. Die „vorgeschriebene Benutzung“, also eine Diskussion über die Bilder, funktioniert scheinbar erst ab einem Alter von 4 Jahren.Das Durchblättern, Anschauen und die Erzählungen zu den Seiten machen aber auch schon kleineren Kindern Freude.

Katy Couprie und Antonin Louchard: Die ganze Welt. Gerstenberg Verlag 2001. ab 4 Jahren. 15,90 Euro.