Reisen, Reimen und Advent: „Wie’s auf dem Mond zugeht“ von Mascha Kaléko

Es wird mal wieder Zeit für Gedichte. Dieses Mal habe ich eines für alle Fernwehgeplagten, die dem grauen November gerne entkommen würden, gefunden.

Die Dichterin Mascha Kaléko ist bekannt geworden für ihren Band „Lyrisches Stenogrammheft“ von 1933. Für Kinder hat sie auch sehr schöne Gedichte geschrieben, die kleine Gedankenreisen möglich machen. Ich  mag z.B. dieses Gedicht sehr gerne:

Wenn ich eine Wolke wäre

Wenn ich eine Wolke wäre,  // segelt‘ ich nach Irgendwo // Durch die weiten Himmelsmeere // von Berlin bis Mexiko.

Blickte in die Vogelnester, // rief die Katzen auf dem Dach, // winkte Brüderchen und Schwester // morgens aus dem Schlafe wach.

Wenn ich eine Wolke wäre, // zög ich mit dem Wüstenwind // zu den Inseln, wo die Menschen gelb und mandeläugig sind // oder braun wie Schokolade // oder mandarinenrot, // wo die Kokosnüsse wachsen, // Feigen und Johannisbrot.

Sehr viel Spaß hatten wir auch mit den Limericks im Band „Wie’s auf dem Mond zugeht“. Zwei davon handeln von Orten, mit denen wir Verbindungen haben – Kassel und Gießen. Der letztere lautet:

Es ärgert sich einer in Gießen, // daß ihn seine Nachbarn nicht grüßen. // Doch er zog seinen Hut, // wie’s ein Gentleman tut. // Nun grüßt ihn ein jeder in Gießen.

Weil der Advent mit großen Schritten naht und auch der Winter schon vor der Tür stehen soll, muss ich euch unbedingt noch das folgende Gedicht ans Herz legen:

Advent

Der Frost haucht zarte Häkelspitzen // perlmuttergrau ans Scheibenglas. // Da blühn bis an die Fensterritzen // Eisblumen, Sterne, Farn und Gras.

Kristalle schaukeln von den Bäumen, // die letzten Vögel sind entflohn. // Leis fällt der Schnee … In unsern Träumen // Weihnachtet es seit gestern schon.

Mascha Kaléko: Wie’s auf dem Mond zugeht. Mit Illustrationen von Verena Ballhaus. Boje Verlag 2010. ab 4 Jahren. 9,95 Euro.

Ein nachträglicher Geburtstagsgruß: Fredrik Vahle zum 70. Geburtstag

Schon lange wollte ich mal über Fredrik Vahle schreiben, nun endlich habe ich einen guten Anlass gefunden. Der Sänger und Liedermacher wurde am 24. Juni 70 Jahre alt – was ich leider ein bisschen spät entdeckt habe – und Jubiläen liefern immer Gründe über Künstler zu sprechen. Also herzlichen Glückwunsch nachträglich, lieber Herr Vahle! Ich wünsche Ihnen und ihrem Publikum, dass Sie noch lange Freude am Musikmachen haben.

Da ich als DDR-Kind eher mit Musik von Gerhard Schöne aufgewachsen bin, waren mir die Lieder von Fredrik Vahle neu. Westdeutsche Freundinnen schwärmten mir begeistert von ihren Kinderheitserinnerungen an die Musik vor. In Gießen – in einem dortigen Vorort wohnt der Künstler – konnte ich durch ihn Verbindungen knüpfen, die mir die Stadt und Region ein bisschen erträglicher machten.

So haben sich bei mir in den letzten drei Jahren einige Szenen im Kopf eingenistet und ein Band zur Musik von Fredrik Vahle ist entstanden. Ich mag jedenfalls sehr die CD „Die Hits vom Fritz“ mit insbesondere „Anne Kaffeekanne“ (mein Lieblingslied), „Der Cowboy Jim aus Texas“ oder dem „Katzentanzlied“. Im Frühjahr 2010 haben wir ein sehr schönes Konzert in einer Grundschule besucht. Im Sommersemester 2011 unterrichtete an der Uni Gießen doch just Fredrik Vahle im Raum neben mir. Ich gab mein erstes Proseminar und huschte bei Ukulele-Klängen in den Seminarraum, wo die Studierenden auf mich warteten. Glücklicherweise waren meine Seminarteilnehmer sehr engagiert, sonst wäre die Versuchung zu groß gewesen, meine Sitzung früher zu beenden, um noch ein wenig Fredrik Vahle zu lauschen. Gerne hätte ich auch mal ein Seminar bei ihm besucht – aber das ist leider Musikpädagogikstudierenden vorbehalten.

Die Musik von Fredrik Vahle repräsentiert für mich ein gewisses bundesdeutsches Milieu, das seine Blütezeit in den 1980er Jahren hatte. Seine bekanntesten Kompositionen sind gesellschaftlich engagiert und greifen Themen wie Umweltschutz, Integration von Ausländern, Arbeitslosigkeit oder den Wunsch nach Frieden auf. Seine Musik integriert Elemente der Popmusik, des Folk und traditioneller Volksmusik aus vielen Ländern. In den letzten Jahren komponierte er vor allem „neue Bewegungslieder“, die ich noch nicht so gut kenne. Bei Beltz&Gelberg sind im Juni anlässlich des Geburtstages Geschichten und Gedichte von Fredrik Vahle mit lllustrationen von Verena Ballhaus erschienen.

Fredrik Vahle und Verena Ballhaus: Ich und du und der Drache Fu. Geschichten und Gedichte. Beltz&Gelberg 2012. ab 6 Jahren. 14,95 Euro.

Hier gibt es eine Übersicht über Konzerte mit Fredrik Vahle.

Urzeitrobotor 2. Teil: „Alle Kinder. Ein ABC der Schadenfreude“ von Anke Kuhl und Martin Schmitz-Kuhl

Humor kann ganz schön provozieren und polarisieren, wie das heutige Buch aus der Nominierungsliste zum „Urzeitroboter“ zeigt. 12 amazon-Bewertungen teilen sich in zwei gegensätzliche Lager. Fünf Rezensenten finden es gut, sieben grottenschlecht. Dabei tritt eine Verbissenheit und Rigorosität zu Tage, die mich in Erziehungsfragen immer wieder erstaunt. Ein Leser betitelte seine Rezension z.B. mit dem Schlagwort „abartig“, nennt das Buch „pervers“ und meint, er würde seinem Sohn verbieten, die Sprüche aus dem „ABC der Schadenfreude“ nachzusprechen.

Dabei greifen die Autoren ein Phänomen auf, dass sowieso auf allen Schulhöfen grassiert: Zweizeilige Reime, in denen einem Kind etwas Schreckliches passiert, während die anderen Kinder in Sicherheit sind. Ich kannte diese Sprüche wie „Alle steh’n am Abgrund. Außer Peter, der geht noch nen Meter.“ auch noch und fand sie lustig als Kind. Unser 4-Jähriger versteht sie leider noch nicht. Aber für 6-Jährige sind sie bestimmt ein großer Spaß. Die 26 Reime werden von klaren Illustrationen begleitet. Die gezeichneten Figuren erinnern in ihrem Stil an die Geschichten von „Le petit Nicolas“ von Sempé und Goscinny, zeigen also Kinder, die ein bisschen wie zu klein geratene Erwachsene aussehen und immer mit glupschigen Augen in die Welt schauen. Die Reime sind alphabetisch nach den Namen der Kinder, auf die ein Reim gedichtet wird, angeordnet. Sogar für das Y wurde ein Name gefunden: „Alle Kinder halten die Tür [vom Klohäuschen] zu. Außer Yves – der sitzt im Mief.“

So kann man prima diskutieren, was denn „gemein sein“ bedeutet. Man kann neue Reime hinzudichten – einige Erwachsene, denen ich das Buch gezeigt habe, meinten sofort: „Da fehlt doch der und der Spruch!“. Und man kann über Humor nachdenken, denn Schadenfreude ist ein wichtiger Bestandteil der Lachkultur. Und wenn sie sich nicht auf konkrete Personen, deren Unglück man gerade vor Augen hat, bezieht und die eigentlich eher Hilfe benötigen als hämische Kommentare, finde ich Schadenfreude einen legitimen Grund zum Lachen und Spaß haben.

Mein Fazit: Das Buch nimmt ein Schulhofphänomen auf und spinnt es weiter. (plus) Im „ABC der Schadenfreude“ stecken mehr Denkanlässe als man auf den ersten Blick vermuten würde. (plus). Das Buch erschien 2011 schon in der dritten Auflage, ist also nicht ganz neu. (minus) Die Zielgruppe entspricht nicht der bei Bilderbüchern üblichen Altersspanne. (minus)

Anke Kuhl und Martin Schmitz-Kuhl: Alle Kinder. Ein ABC der Schadenfreude. Klett Kinderbuch 2011. ab 6 Jahren. 12,90 Euro.

Spaß mit Gedichten im Alltag: „Superguppy“ von Edward van de Vendel. Illustriert von Fleur van de Weel.

Unser Sohn hat, vermittelt durch den Kindergarten, gerade das Reimen für sich entdeckt. Das geht dann so: Kind: „Sag‘ mal Wald!“ – Mama: „Wald“ – Kind: „Deine Unterhose knallt.“ oder: Kind: „Sag‘ mal grün!“ – Mama: „Grün“ – Kind: „Du stehst nackig auf der Bühn‘.“ Kindergartenhumor eben … Aber vielleicht kann ich dieses Interesse am Reimen auch für mich nutzen und meine Vorliebe für Gedichte, mit der die regelmäßigen Blogleser ja schon vertraut sind, einfließen lassen? Ich hätte da auch ein paar Anregungen!

Der Band „Superguppy“ von Edward van de Vendel knüpft nämlich prima an kindliche Vorstellungswelten an und macht aus Erfahrungen und Beobachtungen kleine Sprachkunstwerke. Die 51 Gedichte in dem Band tragen einzelne Substantive als Titel wie „Handschuh“, „Brief“ oder „Obstkorb“ und thematisieren Alltagsbegebenheiten, Gefühle und Jahreszeiten. Dabei fließt immer ganz viel Phantasie und die Liebe zu Details und Kleinigkeiten ein. Ein schönes Beispiel ist das Gedichte „Dusche“:

Swusch und schwapp / Duschwasser fällt / auf mich herab – / alles passt, das seh ich gleich. / Ein Wassermantel dick und weich. / Ui, es spritzt und nichts bleibt trocken! / Wasserpulli, Wassersocken / Wasserhaare, Wasserhaut – / wieso muss ich jetzt schon raus? / Wasserkleider weggespült. / Mich noch nie so kühl gefühlt.

Die Gedichte werden von Illustrationen in einem leuchtenden Grün-Schwarz-Kontrast, die einen lustigen Hund zeigen, begleitet. So wird ihr meist fröhlicher, manchmal verschmitzter Charakter gut unterstrichen. Alle Gedichte bestehen aus mal mehr, mal weniger klassischen Reimen, was bei neuerer Lyrik ja nicht selbstverständlich ist. Manche Reime sind nicht sonderlich überraschend wie oben im Gedicht „Dusche“, manchmal gelingen aber originelle und verblüffende Kombinationen wie im Gedicht „Garten“, wo es heißt: „Überall Farben wie Lippenstifte, / überall Blumen und Blütendüfte.“

Etwas unsicher bin ich mir noch, wie ich die Gedichte an den kleinen Mann bringe. Schauen wir uns gemeinsam das Buch an und lesen nacheinander die einzelnen Gedichte vor? Oder lerne ich Gedichte auswendig und bringe sie dann in passenden Situationen ein? Ich bin jedenfalls gespannt, ob der Humor des Superguppy-Hundes genauso gut ankommt, wie die Witze der Kindergartenfreunde.

Edward van de Vendel: Superguppy. Illustriert von Fleur van de Weel. Boje Verlag 2008. ab 6 Jahren. 9,95 Euro.

Mal wieder ein Gedicht …

In den letzten Tagen hat der Frühling um die Ecke gelunzt. Gerade ist er wieder etwas auf dem Rückzug. Zur Vorfreude auf seine endgültige Einkehr aber ein klassisches Gedicht aus der Anthologie „Die Wundertüte. Alte und neue Gedichte für Kinder“. Viel Vergnügen mit der Frühlingsvorfreude.

Eduard Mörike: Er ist’s

Frühling läßt sein blaues Band // wieder flattern durch die Lüfte, // süße wohlbekannte Düfte // streifen ahnungsvoll das Land; // Veilchen träumen schon, // Wollen balde kommen; // Horch, von fern ein leiser Harfenton! — // Frühling, ja, du bist’s // Dich hab ich vernommen!

Albert Sergel: Nüsseknacken (um 1910)

Die Erinnerung an den Nikolaus ist noch recht frisch. Nüsse hat wohl fast jeder im Stiefel gefunden. Da passt das letzte Gedicht aus der Weihnachtslyrikreihe ganz gut.

Albert Sergel: Nüsseknacken

Holler, boller, Rumpelsack, // Niklas trug sie huckepack, // Weihnachtsnüsse gelb und braun, // runzlig, punzlig anzuschaun.

Knackt die Schale, springt der Kern: // Weihnachtsnüsse eß ich gern. // Komm bald wieder in mein Haus, // alter, guter Nikolaus!

Gustav Falke: Winter (um 1910)

Der Winter ist eigentlich noch nicht da – egal. Mit dem folgenden expressionistischen Gedicht wird eine etwas unheimliche Winterlandschaft lebendig. Vergnügliches Gruseln!

Gustav Falke: Winter

Ein weißes Feld, ein stilles Feld. // Aus veilchenblauer Wolkenwand // Hob hinten, fern am Horizont, // Sich sacht des Mondes roter Rand.

Und hob sich ganz heraus und stand // Bald eine runde Scheibe da, // In düstrer Glut. Und durch das Feld // Klang einer Krähe heisres Krah.

Gespenstig durch die Winternacht // Der große dunkle Vogel glitt, // Und unten huschte durch den Schnee // Sein schwarzer Schatten lautlos mit.

Fritz Koegel / Emily Koegel: Der Bratapfel (um 1922)

Hier kommt das zweite Gedicht aus der kleinen Weihnachtsreihe. Ein schöner Klassiker, der mit seinen zahlreichen Reimen richtig viel Spaß macht. Man riecht den Bratapfel schon, sieht ihn im Ofen vor sich und hat den Geschmack auf der Zunge.

Fritz Koegel / Emily Koegel: Der Bratapfel

Kinder, kommt und ratet, // Was im Ofen bratet! // Hört, wie’s knallt und zischt! // Bald wird er aufgetischt, // Der Zipfel, der Zapfel, // Der Kipfel, der Kapfel // Der gelbrote Apfel.

Kinder, lauft schneller; // Holt einen Teller, // Holt eine Gabel! // Sperrt auf den Schnabel // Für den Zipfel, den Zapfel, // Den Kipfel, den Kapfel. // Den goldbraunen Apfel.

Sie pusten und prusten, // Sie gucken und schlucken, // Sie schnalzen und schmecken, // Sie lecken und schlecken // Den Zipfel, den Zapfel, // Den Kipfel, den Kapfel. // Den knusprigen Apfel.

Meine Nikolausüberraschung: Christian Morgenstern: Wenn es Winter wird (um 1910)

Bisher hat die Weihnachtsstimmung im Blog noch gar nicht Einzug gehalten … aber nun geht es los! Zum Nikolaus habe ich mir eine Überraschung ausgedacht: In den nächsten Tagen präsentiere ich einige Winter- und Weihnachtsgedichte … zum Nachsprechen und Auswendiglernen (was den Kindern wahrscheinlich leichter fällt als den Vorlesern). Die Gedichte sind aus dem Bändchen „Die Wundertüte. Alte und neue Gedichte für Kinder“, hrsg. von Ursula und Heinz Kliewer. Reclam 2010. 14,00 Euro.  Dort sind auch noch neuere Weihnachts- und Wintergedichte von z.B. Christine Nöstlinger enthalten, die ich wegen des Urheberrechts nicht in den Blog  aufnehmen kann.

Leider ist der Zeilenumbruch bei WordPress blöd eingestellt. Daher schreibe ich die Verse hintereinander und trenne sie durch zwei Schrägstriche.

Christian Morgenstern: Wenn es Winter wird

Der See hat eine Haut bekommen, // so daß man fast drauf gehen kann, // und kommt ein großer Fisch geschwommen // so stößt er mit der Nase an.

Und nimmst du einen Kieselstein // und wirfst ihn drauf, so macht es klirr // und titscher – titscher – tischer – dirr … // Heissa du lustiger Kieselstein! Er zwitschert wie ein Vögelein // und tut als wie ein Schwälblein fliegen – doch endlich bleibt mein Kieselstein // ganz weit, ganz weit auf dem See draußen liegen.

Da kommen die Fische haufenweis // und schaun durch das klare Fenster von Eis // und denken, der Stein wär etwas zum Essen; // doch so sehr sie die Nase ans Eis auch pressen, // das Eis ist zu dick, das Eis ist zu alt, // sie machen sich nur die Nase kalt.

Aber bald, aber bald // werden wir selbst auf eignen Sohlen // hinausgehn können und den Stein wieder holen.

Bilder und Ängste: „Fünfter sein“

Als Literaturwissenschaftlerin, die sich bisher vor allem mit „Erwachsenenliteratur“ beschäftigt hat, interessieren mich besonders Kinderbücher von berühmten Autoren und Künstlern. Was passiert, wenn ein vergeistigter Mensch versucht, Kinder anzusprechen und so eventuell die Quintessenz seiner Literatur vermittelt? Einige Beispiele möchte ich im Blog vorstellen.

Als erstes aber soll ein Buch präsentiert werden, dass zwar auf dem Text eines berühmten Schriftstellers basiert, aber nicht als Kinderbuch konzipiert war. Das Gedicht „Fünfter sein“ von Ernst Jandl erschien 1970 das erste Mal in der Sammlung „der künstliche baum“ und wurde rasch zu einem der bekanntesten Gedichte des österreichischen Lyrikers. Wie viele Texte, die der konkreten Poesie zugerechnet werden, scheint es nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder geeignet. 1997 illustrierte Norman Junge das Gedicht und machte aus den wenigen Versen eine kleine Geschichte, die seither einen festen Platz im Kinderbuchkanon hat.

„Fünfter sein“ verkehrt eine Logik, die Kinder irgendwann zwischen zwei und drei Jahren erkennen und die dann später viele menschliche Handlungen bestimmt: Jeder will der Erste sein. Schon die Bibel griff dieses scheinbare Grundmuster menschlichen Verhaltens auf, mit dem viel gebrauchten Spruch „die Ersten, werden die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein.“ (Matthäus 19, 30). Jandl illustriert mit seinem Gedicht diesen Spruch, allerdings mit der Pointe, dass ein Erster nicht kommt, sondern „nur“ ein Nächster. Er überträgt die Logik auf die alltägliche Handlung des Arztbesuches, auf die Perspektive eines Wartenden, der abzählt, wann er denn an der Reihe ist und endlich der lang ersehnten Heilung näher rückt.

In der Konstruktion des experimentellen Gedichts wird die Pointe des Wartens und die erlösende Szene erst am Ende enthüllt. Im illustrierten Büchlein weiß der Leser sofort, um welche Situation es sich handelt. Ein Pinguin mit kaputten Flügeln, eine Nachziehente mit fehlendem Rad, ein Teddybär mit einem verbundenen Arm, ein Frosch mit Pflaster und ein Pinocchio mit gebrochener Nase sitzen mit bangen Gesichtern in einem Wartezimmer, verschwinden nacheinander hinter einer Tür und gehen, rollen, springen frohen Mutes wieder heraus. Das Wartezimmer ist dabei recht düster gezeichnet. Umso heller strahlt die Lampe des Herrn Doktor im Behandlungsraum, der als Letzten den Pinocchio empfängt. Dabei erschien mir der Arzt jedoch auch ein bisschen gruselig, wie einem Horrorfilm entsprungen, denn mit einem feisten Grinsen hält er einen Schraubenzieher in der Hand, vor ihm liegen die Werkzeuge des Puppendoktors: Säge, Hammer, Zange. Da schleicht sich die eigene Angst vorm Zahnarzt an. Bleibt nun die Frage, was man bei Kindern mit diesen Bildern auslöst: Wird die Situation des Wartens beim Doktor anschaulich und die freudigen Gesichter der geheilten Spielzeugkameraden legen das Fundament für eine optimistische Grundstimmung bei Arztbesuchen? Oder verstärken die düsteren Illustrationen den Eindruck des Unheimlichen, Fremden, Unverständlichen der Situation? Wenn man in Literatur eintaucht, weiß man manchmal nicht, wo man wieder raus kommt

Ernst Jandl / Norman Junge: Fünfter sein. Gebundene Ausgabe. Beltz&Gelberg 1997. ab 5 Jahren. 6,95 Euro.