(Nicht-) Urlaubslektüre: „Viegelchen will fliegen“ von Joke van Leuuwen

viegelchenIn Berlin (und fast überalle anderswo auch) ist Ferienzeit, Urlaubszeit. Mein Sommerprogramm sieht leider keinen Urlaub vor. Aber irgendwohin fliegen würde ich schon gerne.

So wie Viegelchen, ein kleines vogelähnliches Wesen, das der Vogelbeobachter Warre eines Tages unter einem Strauch findet.  Er nimmt es mit nach Hause und seine Frau Tine beschließt, dass das Wesen bei ihnen wohnen soll und sie für es sorgen möchten. Viegelchen lernt sprechen und wenn sie einen weiten Mantel trägt, sieht man ihre Flügel nicht. Man könnte meinen, sie wäre ein Menschenkind. Doch eines Tages fliegt sie davon. Warre und Tine suchen verzweifelt nach ihr – finden auch eine Spur und treffen sie, um Tschüss und Lebwohl sagen zu können.

Ich mag diese Geschichte sehr, sehr gerne – nicht nur, weil ich die Autorin einmal persönlich kennen lernen durfte, in einer guten Zeit. Die Geschichte ist so schön einfach, klar und witzig erzählt. Beim Lesen fühle ich mich auch immer ein bisschen kribbelig, zum Davonfliegen und gleichzeitig zum Zurückkommen. Denn das Engagement mit dem sich vor allem Tine um das Viegelchen kümmert, hat etwas sehr Rührendes und ich fühle mich in meinen Muttergefühlen erkannt. Tine schafft es dann sehr gut, ihr Viegelchen fliegen zu lassen – mit einem richtigen Abschied und guten Wünschen für den weiteren Weg.

P.S. Das ist kein Abschiedspost für den Blog … Die Ideen für Beiträge fließen noch, in den nächsten Wochen ist auch etwas mehr Zeit zum Schreiben (ohne jetzt zu viel versprechen zu wollen).

Drachen überall – Drachen in der Literaturgeschichte

Copyright 2008 – Karin Dickel-Jonasch http://www.scherenschnitte-online.de

Vor einiger Zeit habe ich einen Artikel für ein literaturwissenschaftliches Handbuch verfasst. Das „Lexikon literarischer Symbole“ ist vor kurzem erschienen, was mir nun Gelegenheit gegeben hat, darin noch einmal zu blättern. Dabei bin ich auf den sehr schönen Artikel meiner Kollegin Claudia Lauer zu „Drachen“ gestoßen, der wunderbar ein paar unserer Buchentdeckungen aus den letzten Wochen ergänzt und ein neues Licht auf einen Lieblingsklassiker wirft.

Die Verfasserin des Lexikonartikels schreibt, Drachen seien in der Literatur Symbole des Glücks, des Destruktiven, des Bösen und der Unterwelt. Sie verkörpern innere Zustände, Entwicklungsprozesse und politische Herrschaftssysteme. Als Glücksbringer, die von einem Helden bezwungen worden sind, verschaffen sie dem Bezwinger physische Kraft, materiellen Gewinn, Weisheit sowie besondere Fertigkeiten. Sie können den Menschen als Gefährten dienen. Als Repräsentanten  des Bösen und der Unterwelt fordern sie Helden heraus und stellen sie auf eine Probe. Im Kampf mit ihnen ist Mut und Kraft gefordert. Wenn der Drachen bezwungen wurde, zeigt sich oft ein guter Kern Hässlichen, das Böse wir relativiert. In der Psychoanalyse wird der Kampf mit dem Drachen als Ereignis der Persönlichkeitsentwicklung, die zu einer Befreiung gegen regressive Mächte dient, beschrieben. Die Mächte, die Drachen repräsentieren, können z.B. das männliche-patriarchalische Prinzip oder politische Tyrannen sein.

In der Kinder- und Jugendliteratur sind Drachen sehr weit verbreitet. In unserem Lieblingsklassiker „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ kämpfen die beiden Helden gegen den Drachen Frau Mahlzahn und geben ihm nach ihrem Sieg die Chance, sich in einen goldenen Drachen der Weisheit zu verwandeln. Als Symbol der Persönlichkeitsentwicklung hatte ich diese Figur bisher schon gelesen. Nach der Lektüre des Artikels erscheint mir die politische Bedeutung aber auch sehr wichtig. Frau Mahlzahn wohnt schließlich in der Drachenstadt Kummerland, die eindeutig Merkmale eines nationalsozialistischen Staates trägt. Die Versöhnung mit dem Drachen nimmt dann aber ziemlich revisionistische Züge an, die wohl der Entstehungszeit des Buches (Ende der 1950er Jahre) geschuldet ist.

Der zweite Drachen ist mir vor kurzem in einem Antiquariat begegnet. Gezeichnet hat ihn der in Österreich lebende Illustrator Walter Schmögner. Der Drache ist eindeutig ein Glücksdrache, seine Befreiung aus der Unterwelt bewältigt er ohne die Hilfe eines Helden. Das Unglück, das er überwindet, heißt Einsamkeit und Langeweile, besiegt wird es durch einen Besuch im Zoo , wo er seine Kuntstücke vorführen  und die anderen Tiere belustigen kann. Auf dem Weg dorthin trifft er zudem eine kleine Maus, die am Ende seine Gefährtin wird. Die Geschichte des Drachen in „Das Drachenbuch“ ist wie ein Comicstrip gezeichnet. Die Bilder sind sehr charmant, fröhlich und komisch. Eigentlich viel zu schade, um sie zwischen zwei Buchdeckeln zu verstecken.

Der dritte Drachen hat uns aus dem Kindergarten heimgesucht. Gerade wünsche ich mir dringend einen Helden, der ihn besiegt! „Der kleine Drache Kokosnuss“ nervt nämlich mit seinem platten und biederen Charakter und seinen schlecht erzählten Geschichten ganz schön. Unser Sohn hat sich wohl symbolisch in die Unterwelt der Kinderliteratur locken lassen. Wie kriegen wir ihn da bloß wieder raus? Denn als Gefährten und Glücksbringer wünsche ich mir für mein Kind keine verniedlichten, kreuzbraven Wesen, die selten eigene Ideen in ihre Abenteuer einbringen.

Günter Butzer, Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Zweite Auflage. Metzler Verlag Stuttgart 2012.

Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Thienemann 2004. ab 6 Jahren. 14,90 Euro. (Gebunden mit Halbleinen)

Walter Schmöger: Das Drachenbuch. Insel Verlag 1969. ab 4 Jahren. Neuauflage: Residenz Verlag 2010. 8,90 Euro.

Fabelhafte Wesen (zur Unterhaltung kunstbegeisterter Mütter): „Bilderbuch“ von Hanna Höch

Dieses Buch ist ein Schatz! Und dieser Schatz ist dieses Mal nicht für kleine Piraten, sondern eher für die Mütter der Seeräuber, die gerne träumen und sich mit Kunst beschäftigen.

Die Künstlerin Hanna Höch (1889-1978), die vom Dadaismus in den 1920er Jahren geprägt war und mit vielen verschiedenen künstlerischen Techniken arbeitete, stellte dieses Album mit 19 Collagen und Versen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Es zeigt eine fantastische Welt, die von märchenhaft exotischen Pflanzen und Tieren bevölkert ist. Einzelne Tiere werden in den Reimen mit ihren Schwächen und Eigenheiten, die menschliche Wesensmerkmale aufnehmen und kleine zwischenmenschliche Geschichten erzählen, vorgestellt, z.B. die „Rennquicke“:

„Den ganzen Tag ist sie in großer Eile / und man weiss nicht recht warum. / Doch ist sie es nicht aus Langeweile –/ es geht was in ihr um. / Ein wunderfeines Wollgenist / hält sie versteckt am Wiesenrain / das voller, voller Sorgen ist / – voll tausend kleiner Quickrennlein.“

So gibt es ein noch einige andere Mütterfiguren, aber auch alte Ehepaare, falsche Schlangen und einsame Vögel zu bestaunen. Spannend erscheint mir die Frage, warum die Künstlerin das Werk ausgerechnet „Bilderbuch“ genannt hat, wo diese Bezeichnung doch sehr an ein bestimmtes Genres erinnert. Für Hanna Höch stellte die Collagensammlung eine „Zweck-Arbeit“ dar, die „etwas Brot ins Haus bringen sollte“, so beschreibt es die Herausgeberin in der Neuauflage. Die Künstlerin bot das Buch verschiedenen Verlagen an. Die Bilder und Texte erschienen den Verlegern jedoch zu komplex. Es konnte erst 1985 in einer bibliophilen Ausgabe erscheinen.

Kinder kann man sich tatsächlich schwer als Zielgruppe vorstellen, wenn man das Buch durchblättert. Aber vielleicht hatte Hanna Höch noch eine andere Meinung von der kindlichen Bilderwelt und Auffassungsgabe als wir heute?

Hanna Höch: Bilderbuch. The green box 2008. 24,00 Euro.