Wenn Michael Ende noch am Leben wäre …: „Jim Knopf findet’s raus“ von Beate Dölling, nach Motiven von Michael Ende

jim knopf findets rausUnsere „Jim-Knopf- und-Lukas-der-Lokomotivführer“-Leidenschaft ist ungebrochen. Neulich bekam sie neues Futter durch einen Bibliotheksfund. Im Band „Jim Knopf findet’s raus“ nimmt die Autorin Beate Dölling den erklärenden Duktus der Original-Bände auf und erläutert in 24 Kapiteln Naturerscheinungen, auf mal mehr, mal weniger spannende Art und Weise. Jim Knopf bestürmt seine Freunde (Frau Waas, Alfons, der Viertel-vor-Zwölfte, Li Si, Herrn Ärmel) mit Fragen, wie z.B.: Brauchen Lokomotiven auch mal Ferien? Wie entstehen Vulkane? Und warum haben nicht alle Menschen dieselbe Hautfarbe?

Beim Nachdenken über dieses Buch schossen mir zahlreiche Fragen durch den Kopf: Wie hat Michael Ende eigentlich auf den Erfolg von „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ reagiert? Zuerst wurde er ja angefeindet für seine Werke,. Aus diesem Grund sei er nach Italien gezogen, so ist bei Wikipedia zu lesen. Ob es Pläne für Fortsetzungen gab? Die Geschichte würde sich schon dafür eignen, finden mein Sohn und ich. Wir hätten auch schon einen Titel: „Die zwölf Unbesiegbaren“. Wie hätte Michael Ende auf die zahlreichen Spin-Offs aus seiner Geschichte, die im Moment auf dem Markt sind, reagiert?

Ein bisschen schade ist es schon, dass es keine Fortsetzungen von unserer Lieblingsgeschichte gibt – wiewohl ich die zahlreichen Serien, die den Kinderbuchbereich dominieren, eigentlich blöd finde. Vielleicht liegt ja darin gerade der Reiz der Figuren: Jim Knopf und Lukas sind einmalig und ihre Geschichte nutzt sich nicht ab durch das Kopieren und Ausschlachten in Fortsetzungen.

Nun müssen wir eben vorlieb nehmen mit einer bemühten Erzählerin, die zwar die Motive und Ideen von Michael Ende aufnimmt, an dessen erzählerischen Qualitäten aber bei weitem nicht heranreicht.

Michael Ende, Beate Dölling: Jim Knopf findet’s raus. Geschichten über Lokomotiven, Vulkane und Scheinriesen. Thienemann Verlag 2010. ab 6 Jahren. 14,90 Euro.

(Nicht-) Urlaubslektüre: „Viegelchen will fliegen“ von Joke van Leuuwen

viegelchenIn Berlin (und fast überalle anderswo auch) ist Ferienzeit, Urlaubszeit. Mein Sommerprogramm sieht leider keinen Urlaub vor. Aber irgendwohin fliegen würde ich schon gerne.

So wie Viegelchen, ein kleines vogelähnliches Wesen, das der Vogelbeobachter Warre eines Tages unter einem Strauch findet.  Er nimmt es mit nach Hause und seine Frau Tine beschließt, dass das Wesen bei ihnen wohnen soll und sie für es sorgen möchten. Viegelchen lernt sprechen und wenn sie einen weiten Mantel trägt, sieht man ihre Flügel nicht. Man könnte meinen, sie wäre ein Menschenkind. Doch eines Tages fliegt sie davon. Warre und Tine suchen verzweifelt nach ihr – finden auch eine Spur und treffen sie, um Tschüss und Lebwohl sagen zu können.

Ich mag diese Geschichte sehr, sehr gerne – nicht nur, weil ich die Autorin einmal persönlich kennen lernen durfte, in einer guten Zeit. Die Geschichte ist so schön einfach, klar und witzig erzählt. Beim Lesen fühle ich mich auch immer ein bisschen kribbelig, zum Davonfliegen und gleichzeitig zum Zurückkommen. Denn das Engagement mit dem sich vor allem Tine um das Viegelchen kümmert, hat etwas sehr Rührendes und ich fühle mich in meinen Muttergefühlen erkannt. Tine schafft es dann sehr gut, ihr Viegelchen fliegen zu lassen – mit einem richtigen Abschied und guten Wünschen für den weiteren Weg.

P.S. Das ist kein Abschiedspost für den Blog … Die Ideen für Beiträge fließen noch, in den nächsten Wochen ist auch etwas mehr Zeit zum Schreiben (ohne jetzt zu viel versprechen zu wollen).

Jetzt wird’s ziemlich dunkel: „Hans Huckebein“ von Wilhelm Busch, illustriert von Jonas Lauströr

Falls es noch Lücken auf eurem Wunschzettel gibt, habe ich heute einen besonderen Tipp für euch, d.h. für Eltern, die gerne über Bücher nachdenken, die sich von großartigen Bildern gefangen nehmen lassen, die Spaß an Wortspielen und hintersinnigem Humor haben.

Der Illustrator Jonas Lauströer hat auf wunderbare Weise Wilhelm Buschs Bildergeschichte „Hans Huckebein, der Unglücksrabe“ interpretiert. Die Geschichte handelt davon, wie der kleine Fritz einen Raben fängt, ihn mit nach Hause bringt und wie das Tier dort große Verwüstungen anstellt. Die Kette von Missgeschicken, in die der schwarze Hans verstrickt wird, führt zu einem tragischen Ende. Das Original von Wilhelm Busch, erschienen von 1867 bis 1868, kommt dabei recht leicht daher und weist in seiner Bildsprache schon auf Comics hin. Der Rabe wirkt sehr ungeschickt und tollpatschig, er  scheint selbst schuld zu sein an seinem Schicksal.

In Jonas Lauströrs Bilderbuch wird das Tragische an der Geschichte betont. In seinen Zeichnungen wird großes Mitleid mit dem armen eingefangenen Tier sichtbar. Man sieht immer Furcht und Panik in den Augen des Raben. Der Text kann so gelesen werden, als würden die Unglücke nicht passieren, weil Hans bösartig ist. Reine Panik, Unwissenheit, aber auch eine gehörige Portion Neugier, führen zu Missverständnissen, Missgeschicken und Misshandlungen. Der Rabe verhält sich so ungehörig, weil er in eine ihm fremde Umgebung eingepflanzt wurde und weil die Kultur ihm sein Unglück vorgibt. Raben und Krähen gelten in der Literatur als Tiere, die Tod und Unglück bringen. Das Schicksal des armen Hans Huckebein ist ihm vorbestimmt, Vorurteile und Unterstellungen prägen seine Begegnung mit dem kleinen Fritz und seiner Tante.

So lässt sich die Geschichte sehr gut als Erzählung einer misslungenen Erziehung und Sozialisation lesen. Hans Huckebein, das Naturwesen, das gezähmt werden soll, macht diesen Prozess nicht mit. Er lässt sich nicht in die häusliche und künstliche Umgebung einpassen und kann nicht in das soziale Miteinander eingefügt werden. Dieser Prozess scheitert nicht, weil Hans ein böses und bockiges Kind ist, sondern weil das von ihm Verlangte nicht seiner Natur entspricht. Da der Rabe dem Knaben nicht vertraut und er mit einer List eingefangen wird, nimmt das Vorhaben seiner Erziehung schon einen schlechten Anfang, der unweigerlich auf ein tragisches Ende hinausläuft.

Diesem Ende gibt Jonas Lauströer eine poetologische Zusatzbedeutung, denn Hans Huckebein erhängt sich unfreiwillig in einem roten Faden. Somit passt der arme Rabe nicht einmal in eine stringente Erzählung hinein. Die Ordnung tötet den schönen Vogel. Die wuchtigen Bilder und die mutige Interpretation des Illustrators machen hingegen Sinn vom Anfang bis zum Ende. Die Geschichte von Hans Huckebein bekommt spannende neue Facetten und wird zum Leben erweckt – auch wenn ziemlich viel Blut und Blaubeersuppe spritzt.

Wilhelm Busch: Hans Huckebein. Mit Bildern von Jonas Lauströer. minedition 2010. ab 3 Jahren (Verlagsangabe, ich denke aber ab 6 Jahren wäre angemessener). 14,95 Euro.

Drachen überall – Drachen in der Literaturgeschichte

Copyright 2008 – Karin Dickel-Jonasch http://www.scherenschnitte-online.de

Vor einiger Zeit habe ich einen Artikel für ein literaturwissenschaftliches Handbuch verfasst. Das „Lexikon literarischer Symbole“ ist vor kurzem erschienen, was mir nun Gelegenheit gegeben hat, darin noch einmal zu blättern. Dabei bin ich auf den sehr schönen Artikel meiner Kollegin Claudia Lauer zu „Drachen“ gestoßen, der wunderbar ein paar unserer Buchentdeckungen aus den letzten Wochen ergänzt und ein neues Licht auf einen Lieblingsklassiker wirft.

Die Verfasserin des Lexikonartikels schreibt, Drachen seien in der Literatur Symbole des Glücks, des Destruktiven, des Bösen und der Unterwelt. Sie verkörpern innere Zustände, Entwicklungsprozesse und politische Herrschaftssysteme. Als Glücksbringer, die von einem Helden bezwungen worden sind, verschaffen sie dem Bezwinger physische Kraft, materiellen Gewinn, Weisheit sowie besondere Fertigkeiten. Sie können den Menschen als Gefährten dienen. Als Repräsentanten  des Bösen und der Unterwelt fordern sie Helden heraus und stellen sie auf eine Probe. Im Kampf mit ihnen ist Mut und Kraft gefordert. Wenn der Drachen bezwungen wurde, zeigt sich oft ein guter Kern Hässlichen, das Böse wir relativiert. In der Psychoanalyse wird der Kampf mit dem Drachen als Ereignis der Persönlichkeitsentwicklung, die zu einer Befreiung gegen regressive Mächte dient, beschrieben. Die Mächte, die Drachen repräsentieren, können z.B. das männliche-patriarchalische Prinzip oder politische Tyrannen sein.

In der Kinder- und Jugendliteratur sind Drachen sehr weit verbreitet. In unserem Lieblingsklassiker „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ kämpfen die beiden Helden gegen den Drachen Frau Mahlzahn und geben ihm nach ihrem Sieg die Chance, sich in einen goldenen Drachen der Weisheit zu verwandeln. Als Symbol der Persönlichkeitsentwicklung hatte ich diese Figur bisher schon gelesen. Nach der Lektüre des Artikels erscheint mir die politische Bedeutung aber auch sehr wichtig. Frau Mahlzahn wohnt schließlich in der Drachenstadt Kummerland, die eindeutig Merkmale eines nationalsozialistischen Staates trägt. Die Versöhnung mit dem Drachen nimmt dann aber ziemlich revisionistische Züge an, die wohl der Entstehungszeit des Buches (Ende der 1950er Jahre) geschuldet ist.

Der zweite Drachen ist mir vor kurzem in einem Antiquariat begegnet. Gezeichnet hat ihn der in Österreich lebende Illustrator Walter Schmögner. Der Drache ist eindeutig ein Glücksdrache, seine Befreiung aus der Unterwelt bewältigt er ohne die Hilfe eines Helden. Das Unglück, das er überwindet, heißt Einsamkeit und Langeweile, besiegt wird es durch einen Besuch im Zoo , wo er seine Kuntstücke vorführen  und die anderen Tiere belustigen kann. Auf dem Weg dorthin trifft er zudem eine kleine Maus, die am Ende seine Gefährtin wird. Die Geschichte des Drachen in „Das Drachenbuch“ ist wie ein Comicstrip gezeichnet. Die Bilder sind sehr charmant, fröhlich und komisch. Eigentlich viel zu schade, um sie zwischen zwei Buchdeckeln zu verstecken.

Der dritte Drachen hat uns aus dem Kindergarten heimgesucht. Gerade wünsche ich mir dringend einen Helden, der ihn besiegt! „Der kleine Drache Kokosnuss“ nervt nämlich mit seinem platten und biederen Charakter und seinen schlecht erzählten Geschichten ganz schön. Unser Sohn hat sich wohl symbolisch in die Unterwelt der Kinderliteratur locken lassen. Wie kriegen wir ihn da bloß wieder raus? Denn als Gefährten und Glücksbringer wünsche ich mir für mein Kind keine verniedlichten, kreuzbraven Wesen, die selten eigene Ideen in ihre Abenteuer einbringen.

Günter Butzer, Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Zweite Auflage. Metzler Verlag Stuttgart 2012.

Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Thienemann 2004. ab 6 Jahren. 14,90 Euro. (Gebunden mit Halbleinen)

Walter Schmöger: Das Drachenbuch. Insel Verlag 1969. ab 4 Jahren. Neuauflage: Residenz Verlag 2010. 8,90 Euro.

Bilderbuchtage Gießen

Da ich im letzten Beitrag meine Verbindung zu Gießen herausgestellt habe, gleich noch ein Veranstaltungstipp hinterher: Vom 27.08. bis 09.09.2012 finden dort die  so genannten Bilderbuchtage statt – eine sehr schöne Veranstaltungsreihe mit Lesungen und Vorträgen für die ganze Familie.

Als Highlight kann ich die Eröffnung mit der Autorin und Illustratorin Ute Krause in der Stadtbibliothek empfehlen. Ihr Buch „Wann gehen die wieder?“ und die Mini-Fernsehserie „Luzie und die Moffels“, die beim Sandmännchen gezeigt wird, gefallen mir ganz gut. Ihre Illustrationen sind in einer Ausstellung zu sehen.

Lustig wird bestimmt auch die Lesung aus „Cowboy Klaus und das pupsende Pony“, einem derzeitigen Renner auf dem Kinderbuchmarkt.

Hier gibt es das ganze Programm der Bilderbuchtage mit allen Lesungen und genauen Informationen.

Ein nachträglicher Geburtstagsgruß: Fredrik Vahle zum 70. Geburtstag

Schon lange wollte ich mal über Fredrik Vahle schreiben, nun endlich habe ich einen guten Anlass gefunden. Der Sänger und Liedermacher wurde am 24. Juni 70 Jahre alt – was ich leider ein bisschen spät entdeckt habe – und Jubiläen liefern immer Gründe über Künstler zu sprechen. Also herzlichen Glückwunsch nachträglich, lieber Herr Vahle! Ich wünsche Ihnen und ihrem Publikum, dass Sie noch lange Freude am Musikmachen haben.

Da ich als DDR-Kind eher mit Musik von Gerhard Schöne aufgewachsen bin, waren mir die Lieder von Fredrik Vahle neu. Westdeutsche Freundinnen schwärmten mir begeistert von ihren Kinderheitserinnerungen an die Musik vor. In Gießen – in einem dortigen Vorort wohnt der Künstler – konnte ich durch ihn Verbindungen knüpfen, die mir die Stadt und Region ein bisschen erträglicher machten.

So haben sich bei mir in den letzten drei Jahren einige Szenen im Kopf eingenistet und ein Band zur Musik von Fredrik Vahle ist entstanden. Ich mag jedenfalls sehr die CD „Die Hits vom Fritz“ mit insbesondere „Anne Kaffeekanne“ (mein Lieblingslied), „Der Cowboy Jim aus Texas“ oder dem „Katzentanzlied“. Im Frühjahr 2010 haben wir ein sehr schönes Konzert in einer Grundschule besucht. Im Sommersemester 2011 unterrichtete an der Uni Gießen doch just Fredrik Vahle im Raum neben mir. Ich gab mein erstes Proseminar und huschte bei Ukulele-Klängen in den Seminarraum, wo die Studierenden auf mich warteten. Glücklicherweise waren meine Seminarteilnehmer sehr engagiert, sonst wäre die Versuchung zu groß gewesen, meine Sitzung früher zu beenden, um noch ein wenig Fredrik Vahle zu lauschen. Gerne hätte ich auch mal ein Seminar bei ihm besucht – aber das ist leider Musikpädagogikstudierenden vorbehalten.

Die Musik von Fredrik Vahle repräsentiert für mich ein gewisses bundesdeutsches Milieu, das seine Blütezeit in den 1980er Jahren hatte. Seine bekanntesten Kompositionen sind gesellschaftlich engagiert und greifen Themen wie Umweltschutz, Integration von Ausländern, Arbeitslosigkeit oder den Wunsch nach Frieden auf. Seine Musik integriert Elemente der Popmusik, des Folk und traditioneller Volksmusik aus vielen Ländern. In den letzten Jahren komponierte er vor allem „neue Bewegungslieder“, die ich noch nicht so gut kenne. Bei Beltz&Gelberg sind im Juni anlässlich des Geburtstages Geschichten und Gedichte von Fredrik Vahle mit lllustrationen von Verena Ballhaus erschienen.

Fredrik Vahle und Verena Ballhaus: Ich und du und der Drache Fu. Geschichten und Gedichte. Beltz&Gelberg 2012. ab 6 Jahren. 14,95 Euro.

Hier gibt es eine Übersicht über Konzerte mit Fredrik Vahle.

Theater, Comic, Lied, Film – eine Mediencollage aus der Vor-Internet-Zeit: „Kiebich und Dutz“ von Friedrich Karl Waechter

Eine kleine Anekdote vorweg: Ich habe das Buch in einem Antiquariat entdeckt. Die Buchhändlerin fragte mich, warum ich das Buch kaufen würde. Ich erzählte ihr von meinem Interesse für historische Kinderbücher. Sie meinte dann zu mir, sie hätte geahnt, dass dieses Buch niemand für seine Kinder kaufen würde. Und sie hat Recht: Dieses Buch einem Kind zu vermitteln, ist wahrscheinlich eine schwierige Aufgabe, denn es ist sehr historisch und hat nicht mehr viel mit unserer heutigen Medienrealität zu tun. Vielleicht finde ich doch noch eine Verwendung für meinen Sohn, denn die Geschichte gefällt mir sehr gut. Außerdem hat sie mein literaturwissenschaftliches Interesse inspiriert und mir einige aufregende Entdeckungen beschert.

Aber nun der Reihe nach: „Kiebich und Dutz“ ist eigentlich ein Theaterstück. Es hatte seine Uraufführung 1979 im Frankfurter Schauspielhaus. Aus dem Stücktext, Fotos vom Bühnengeschehen, Zeichnungen und einem Comic von F.K. Wächter sowie Noten ist eine Collage, eine intermediales Gesamtkunstwerk in Buchform, entstanden und ebenso 1979 erschienen. Von dieser Medienmischung war ich beim ersten Mal Lesen und Schauen komplett erschlagen. Ich hatte den Eindruck, es handelte sich um eine sehr, sehr komplizierte Geschichte, die schwer verständlich sei. Erst langsam dröselte sich für mich die Collage auf und fügte sich zu einem Gesamtbild.

Die beiden Freunde Kiebich und Dutz leben in einem Kasten. Kiebich liest in einem Comic mit dem Titel „Rakis Reise in die Welt“ und ist begeistert von der Geschichte. Er beschließt, ebenso wie der Held, Abenteuer in der Welt außerhalb des Kastens zu erleben. Er möchte gerne seinen Freund Dutz mitnehmen, doch der hat zu viel Angst und bleibt lieber in seinem kuscheligen Kissenberg versteckt. Kiebich macht sich allein auf den Weg und begegnet zuerst einem Reklamepfeil, der anzeigt, dass in Dr. Potters Gruselbahn ein Einlasskontrolleur gesucht wird. Kiebich lässt sich auf dieses Angebot ein und gerät in die Fänge des ausbeuterischen Dr. Potter, der totale Kontrolle über seinen Angestellten ausüben will. Kiebich möchte ausbrechen aus seiner stumpfen Tätigkeit und der Herrschaft des Dr. Potter, verstrickt sich aber immer mehr und wird schließlich seiner Augen und Ohren beraubt. Sein Freund Dutz spürt, dass es Kiebich schlecht geht und er macht sich auf den Weg, ihn zu suchen. Bald gelangt er zu Dr. Potters Gruselbahn, kann den Schurken besiegen und Kiebich befreien.

Es geht also vorrangig darum, wie die beiden Freunde Kiebich und Dutz die Welt entdecken. Die beiden sind sehr unterschiedlich: Kiebich ist neugierig, mutig, fast ein bisschen zu ungestüm. Dutz ist ängstlich, gemütlich und sehr herzlich. Insbesondere Dutz entwickelt sich im Laufe der Geschichte sehr stark weiter: Er wird mutiger und erobert langsam die Welt. Mit ihm erlebt man als Leser und Zuschauer die Entwicklungsetappen eines Kindes. Kiebich hingegen hat die Rolle des Erziehers inne, der seinem Schützling die Welt zeigt. Am Ende kehren sich die Aufgaben der beiden um, denn Dutz befreit Kiebich. Damit enthält das Stück schöne Botschaften, die auch sehr präzise und explizit formuliert sind. Die Beschreibung der Freundschaft der beiden Geschöpfe, die im Laufe der Geschichte Höhen und Tiefen erlebt und am Ende als enges Band erscheint, regt zum Nachdenken über Freunde an. Das Motiv des Hinausziehens in die Welt, die erst einmal nur im Kopf und in einem Comic existiert, thematisiert das Verhältnis von Medien und Realität. Im Stück heißt es: „Ein Buch ist ein Buch, aber die Welt ist die Welt“.

Vertieft wird diese medienkritische Haltung in einem Film, der 1987 nach der Vorlage des Theaterstücks mit den Schauspielern aus dem Stück (Michael Altmann und Heinz Kraehkamp) gedreht wurde. Im Film gerät Kiebich nicht durch eine bedrohliche und kontrollierende Arbeitswelt in Gefahr, sondern durch eine Musikmaschine. Diese verführt ihn durch ihre geheimnisvollen Töne auf „Knopfdruck“ und verschlingt ihn mit Haut und Haaren. So wird die im Stück angedeutete Medienkritik noch deutlicher und zwar in einem stärker technisierten Medium als es das Theater ist. Diese Wendung hat mich sehr überrascht, denn sie scheint mir paradox.

Ich bin neugierig, was das Schauspiel Frankfurt aus diesen beiden Lesarten und dem großartigen Kindermedienexperiment von F.K. Waechter macht. Zufälligerweise steht „Kiebich und Dutz“ im Frühjahr 2013 dort auf dem Spielplan.

Friedrich Karl Waechter: Kiebich und Dutz. Mit Fotos von Rainer Drexel und Zeichnungen von Friedrich Karl Waechter. Diogenes Verlag 1979. ab 6 Jahren. Nur noch antiquarisch erhältlich.

Hier gibt es nähere Informationen zum Film.

Und hier die Ankündigung auf dem Spielplan des Frankfurter Schauspiels. Falls ihr irgendwo weitere Aufführungen angekündigt findet, würde ich mich sehr über Hinweise dazu freuen.

Schwedische Landidyllen: „Immer dieser Michel“ von Astrid Lindgren

Was für ein komischer Zufall! Wir sind gerade in die Großstadt umgezogen, prompt spaziert uns Michel aus Lönneberga über den Weg und nimmt uns mit in seine schwedische Bauernhofidylle. Neben der Arbeit als U-Bahn-Fahrer geht unser Sohn im Moment somit auch einer Tätigkeit als Feldknecht nach, der ein Roggenfeld aberntet. Das ist ganz neu in seiner Vorstellungswelt. Für Traktoren hat er sich bisher nicht interessiert.

Die Beschreibungen in „Immer dieser Michel“ von Astrid Lindgren sind aber auch zu eingängig: die kleinen roten Häuser, der See, in dem Michel mit Alfred bei Mondschein Krebse fängt, die Fahrten mit der Kutsche oder dem Schlitten nach Mariannelund. Meine Vorstellungen sind, wenn ich diese Passagen lese, natürlich sehr von den Filmen geprägt. Obwohl unser Sohn diese nicht kennt, hat ihn der Text aber auch gefangen genommen. Er liebt die klingenden Personennamen, z.B. der Armenhäusler (Unken Ulla, Salia Amalia), die häufigen Aufzählungen von Gerichten (Blutklöße! – das Buch muss ein Graus sein für Vegetarier) und findet die Anekdoten lustig.

„Immer dieser Michel“ von Astrid Lindgren reiht sich ein in eine Reihe von schwedischen literarischen Werken, die in Deutschland besonders erfolgreich sind. Sie wurden aufgenommen in eine Tradition der idyllischen Verklärung von Landschaften. In Deutschland waren Sie als Gegenbilder zu modernen Großstädten mit Industrieschornsteinen, anonymen Menschenmassen und einer seelenlosen Konsumwelt sehr willkommen. So wurde z.B. Selma Lagerlöfs „Nils Holgerssons Reise“, erschienen 1906, in Deutschland von der so genannten Heimatkunstbewegung, die gegen den „Moloch Berlin“ kämpfte, vereinnahmt. „Immer dieser Michel“ erschien 1963 das erste Mal in Schweden und bedient genauso wie Nils Holgersson das Bedürfnis nach einer heilen, kleinen Naturidylle.

Spannend finde ich an dieser deutschen Schweden-Begeisterung, wie sehr die Texte dabei oft missverstanden wurden. Astrid Lindgrens Bücher wurden z.B. von Verfechtern anti-autoritärer Erziehungskonzepte, gerne als Musterbeispiele für Rebellionen gegen Tradition und Ordnung verstanden. In „Immer dieser Michel“ wird insbesondere die strenge Erziehung des Vaters in Frage gestellt. Gleichzeitig vertritt die Erzählstimme aber ein sehr protestantisches Gesellschaftsbild: Michels Weg führt zu einer angesehenen Position als Gemeinderatspräsident, sein ökonomisches Geschick und Glück wird oft betont, denn er hat ein Händchen für gute Geschäfte. Die Landidylle wird durch große soziale Probleme (Armenhaus, Alkoholismus) getrübt. Diese kleinen Störungen brechen in die Idylle ein und machen sie so interessant. Ohne sie wäre die Landidylle einfach nur kitschig. Und trotzdem ….

Ich fühle mich gerade in der Großstadt ganz wohl und habe selten Sehnsucht nach meinem ländlichen Kindheitsort. Als Mutter mache ich mir ein bisschen Sorgen, dass die Bilder von Landidyllen, verstärkt durch „Michel aus Lönnerberga“ die Eingewöhnung in der großen Stadt etwas verleiden. Demnächst ist also „Karlsson auf dem Dach“ an der Reihe – das spielt nämlich in der Stadt.

P.S.: Noch ein komischer Zufall: Es handelt sich um das erste Astrid-Lindgren-Buch, das wir vorlesen. Vielleicht aber doch kein Zufall, da unser Sohn auch so blond wie Michel ist und öfters Ähnlichkeiten zwischen ihm und der Figur hergestellt werden.

Astrid Lindgren: Immer dieser Michel. Limitierte Sonderausgabe. Oetinger-Verlag 2012. ab 6 Jahren. 9,95 Euro.

Urzeitrobotor 2. Teil: „Alle Kinder. Ein ABC der Schadenfreude“ von Anke Kuhl und Martin Schmitz-Kuhl

Humor kann ganz schön provozieren und polarisieren, wie das heutige Buch aus der Nominierungsliste zum „Urzeitroboter“ zeigt. 12 amazon-Bewertungen teilen sich in zwei gegensätzliche Lager. Fünf Rezensenten finden es gut, sieben grottenschlecht. Dabei tritt eine Verbissenheit und Rigorosität zu Tage, die mich in Erziehungsfragen immer wieder erstaunt. Ein Leser betitelte seine Rezension z.B. mit dem Schlagwort „abartig“, nennt das Buch „pervers“ und meint, er würde seinem Sohn verbieten, die Sprüche aus dem „ABC der Schadenfreude“ nachzusprechen.

Dabei greifen die Autoren ein Phänomen auf, dass sowieso auf allen Schulhöfen grassiert: Zweizeilige Reime, in denen einem Kind etwas Schreckliches passiert, während die anderen Kinder in Sicherheit sind. Ich kannte diese Sprüche wie „Alle steh’n am Abgrund. Außer Peter, der geht noch nen Meter.“ auch noch und fand sie lustig als Kind. Unser 4-Jähriger versteht sie leider noch nicht. Aber für 6-Jährige sind sie bestimmt ein großer Spaß. Die 26 Reime werden von klaren Illustrationen begleitet. Die gezeichneten Figuren erinnern in ihrem Stil an die Geschichten von „Le petit Nicolas“ von Sempé und Goscinny, zeigen also Kinder, die ein bisschen wie zu klein geratene Erwachsene aussehen und immer mit glupschigen Augen in die Welt schauen. Die Reime sind alphabetisch nach den Namen der Kinder, auf die ein Reim gedichtet wird, angeordnet. Sogar für das Y wurde ein Name gefunden: „Alle Kinder halten die Tür [vom Klohäuschen] zu. Außer Yves – der sitzt im Mief.“

So kann man prima diskutieren, was denn „gemein sein“ bedeutet. Man kann neue Reime hinzudichten – einige Erwachsene, denen ich das Buch gezeigt habe, meinten sofort: „Da fehlt doch der und der Spruch!“. Und man kann über Humor nachdenken, denn Schadenfreude ist ein wichtiger Bestandteil der Lachkultur. Und wenn sie sich nicht auf konkrete Personen, deren Unglück man gerade vor Augen hat, bezieht und die eigentlich eher Hilfe benötigen als hämische Kommentare, finde ich Schadenfreude einen legitimen Grund zum Lachen und Spaß haben.

Mein Fazit: Das Buch nimmt ein Schulhofphänomen auf und spinnt es weiter. (plus) Im „ABC der Schadenfreude“ stecken mehr Denkanlässe als man auf den ersten Blick vermuten würde. (plus). Das Buch erschien 2011 schon in der dritten Auflage, ist also nicht ganz neu. (minus) Die Zielgruppe entspricht nicht der bei Bilderbüchern üblichen Altersspanne. (minus)

Anke Kuhl und Martin Schmitz-Kuhl: Alle Kinder. Ein ABC der Schadenfreude. Klett Kinderbuch 2011. ab 6 Jahren. 12,90 Euro.

Gute Taten: „Nimmerklug in Sonnenstadt“ von Nikolai Nossow

Zur Zeit beschäftige ich mich mit einem Helden aus meiner Kindheit. Ich habe das Buch „Nimmerklug in Sonnenstadt“ von Nikolai Nossow hervor gekramt und stöbere gerade darin. An die Geschichte konnte ich mich fast gar nicht mehr erinnern. Aber die Tuschezeichnungen, die den Text begleiten, gaben mir gleich ein warmes Gefühl von Vertrautheit. Außerdem fand ich die Überlegung spannend, welche Gedanken aus diesem Buch – das mir sehr, sehr, sehr oft vorgelesen wurde und ich schließlich selbst mehrere Male gelesen habe – mein Leben und meine Einstellungen beeinflusst haben. Und welche Ideen heute auch noch in Kinderbüchern vorkommen oder ob der Wechsel des Gesellschaftssystems – die Nimmerklug-Bücher sind 1954 erstmals in der Sowjetunion erschienen – sich auch in den Geschichten grundlegend bemerkbar macht. Zuerst einmal handelt es sich nämlich bei „Nimmerklug in Sonnenstadt“ um eine klassische Reisegeschichte: Der Held zieht aus, um ein Abenteuer zu bestehen und kehrt am Ende zurück.

Auf den ersten Seiten fiel mir aber schon ein zentrales Motiv auf, das in zeitgenössischen Kinderbüchern kaum noch begegnet: Der Held soll „gute Taten“ verbringen. Da musste ich gleich an einen Klassiker der DDR-Schullektüre denken, in dem der14-jährige Timur Garajew sich als Anführer einer Jungsbande um die Witwen und die Angehörigen von Frontsoldaten kümmert: „Timur und sein Trupp“. Spannend ist in „Nimmerklug in Sonnenstadt“, das der kleine Knirps reflektieren muss, was eine „gute Tat“ denn überhaupt ist. Seine Freundin Pünktchen berichtet ihm von einem Zauberer, der demjenigen einen Zauberstab schenkt, der drei gute Taten hintereinander vollbringt. Das Knifflige an der Aufgabe ist, dass der Prüfling nicht aus Egoismus und nur mit Ziel, den Zauberstab zu erlangen, handeln soll. So scheitert Nimmerklug auch bei seinen ersten Versuchen, seinen Freunden zu helfen. Seine Ungeschicklichkeit, die mir immer sehr sympathisch war, verhindert noch dazu, dass er seinem Ziel näher kommt. Erst als er die Aufgabe eigentlich schon wieder vergessen hat, gelingt es ihm, uneigennützig zu helfen.

Werden in Kinderbüchern selten „gute Taten“ thematisiert, so bietet das Internet eine Fülle von Möglichkeiten und Angeboten. Vor kurzem bin ich z.B. auf die Seite http://doonited.com/blog gestoßen, die eine „gute Tat“ pro Tag vorschlägt und dafür Punkte verteilt. So soll durch viele kleine „gute Taten“ die Welt verbessert werden. Dabei drehen sich die „guten Taten“ nicht wie beim kleinen Knirps Nimmerklug um die Hilfe bei der Arbeit oder kleine Aufmerksamkeiten gegenüber Freunden, sondern es geht oft darum, sich selbst etwas Gutes zu tun und dabei noch sein grünes Gewissen zu entlasten. Natürlich wird auch das menschliche Miteinander einbezogen, aber doch in einer sehr unkonkreten Art und Weise, wie z.B. „Verbringe eine Stunde deiner Zeit mit einer Person deiner Wahl.“ Wenn man die „guten Taten“ bei Nimmerklug und www.doonited.com vergleicht, so scheint gerade der Uneigennutz, der dem Knirps zu seinem Zauberstab verhilft, den entscheidenden Unterschied auszumachen. Damals dienten „gute Taten“ der Eingliederung in die arbeitende Gesellschaft, heute funktionieren „gute Taten“ als Wellness-Programm für gestresste Großstadtbewohner.

Nikolai Nossow: Nimmerklug in Sonnenstadt. leiv 2008. ab 6 Jahren. 14,90 Euro.