Wie und wo anfangen? „Der Mondmann“ von Tomi Ungerer

mondmannDas Werk von Tomi Ungerer ist beeindruckend. Schon die Biogaphie des Künstlers bei Wikipedia liest sich wie ein Abenteuerroman. Die Liste seiner Bilderbücher für Kinder und Erwachsene ist lang. Sogar ein Museum wurde dem Autor noch zu Lebzeiten gewidmet.

Zu seinem 80. Geburtstag brachte der Diogenes-Verlag eine Sammlung mit vier Bilderbüchern heraus, mit dem ich mich in den letzten Tagen beschäftigt habe. Alle vier Bücher haben einen ganz eigenen Charme, so dass ich wirklich nicht weiß, bei welchem Schatz ich anfangen könnte, um ihn hier vorzustellen. Wie sich dem Werk des großen Künstlers nähern?

Das Schöne an Kinderbüchern ist nun, dass sie meistens einen Bezug zum Alltag bieten, konkrete Anlässe zu denen sie passen. Und so habe auch ich einen Anfang gefunden: Der erste Band von Tomi Ungerer, den ich heute vorstellen möchte, heißt „Der Mondmann“. Das Bilderbuch von 1966 ergänzt hervorragend meine kleine Mondleidenschaft, die ich mit unserem Sohn teile.  Seit er ab einem Alter von ca. 1,5 Jahren ständig auf den Mond zeigte und ihn immer und überall bemerkte, schaue ich mir den Erdtrabanten noch viel lieber an. Mein Lieblingseinschlaflied ist „Der Mond ist aufgegangen“. Heute ist nun Vollmond angesagt, der echte Mondmann könnte heute also gut zu sehen sein (wenn die Wolken es zulassen).

Der kleine, rundliche Mondmann von Tomi Ungerer möchte nicht länger einsam am Himmel wohnen. Er sehnt sich nach Gesellschaft und Abwechslung. Er möchte die Erde besuchen. Als ein Komet an ihm vorbeifliegt, nutzt er die Gelegenheit und hängt sich an ihn dran. Der Empfang bei den Menschen ist jedoch  wenig freundlich, der Mondmann wird ins Gefängnis geworfen, weil er als Eindringling und Feind betrachtet wird. Der Mondmann ist sehr enttäuscht und verzweifelt, da kommen ihm die Mondphasen zur Hilfe. Weil er abnimmt und abnimmt, kann er aus dem Gefängnis verschwinden und sich seinen Traum vom Tanz beim Gartenfest doch noch erfülllen. Lange währt diese Freude nicht, denn schon bald ist ihm die Polizei wieder auf den Fersen. Da kehrt er lieber wieder in seine silberne Wohnung zurück.

Die Erde ist ein sehr unsicherer Platz für den knuddeligen Mondmann, seine Sehnsucht erfüllt sich bei den Menschen nur für kurze Zeit. Am sichersten ist er in seiner Heimat aufgehoben. Vielleicht sollte ich an die Geschichte vom Mondmann denken, wenn ich mal wieder sehnsüchtig den Mond anschaue und mir vorstelle, wie es doch gerade anderswo sein könnte, wo ich nicht bin. Und dann bekommt die melancholische Stimmung des Buchs einen bodenständigen und geerdeten Dreh. Gut, dass der Mondmann seinen Platz am Himmel hat.

Tomi Ungerer: Der Mondmann. Diogenes Verlag 2011. Enthalten in: Das Tomi Ungerer Kinderbuch Schatzkästlein. ab 4 Jahren. 19,95 Euro.

P.S.: Das „Schatzkästlein“ kann einen Einstieg in das Werk von Tomi Ungerer bieten. Ich finde das Format der Bilderbücher aber zu klein. Ich denke, die Illustrationen kommen besser im A4-Format zur Geltung. „Der Mondmann“ ist auch in einer größeren Ausgabe lieferbar.

2. P.S.: Für alle erwachsenen Mondfans habe ich noch einen kleinen Lesetipp: Bernd Brunner: Mond. Die Geschichte einer Faszination. Kunstmann Verlag 2011. 19,90 Euro.

Und noch ein P.S.: In Frankreich ist gerade ein Zeichentrickfilm zum Buch in die Kinos gekommen. Die Bilder dazu sehen zauberhaft aus. Im März soll der Film in die deutschen Kinos kommen. Unbedingt vormerken!

Überraschungsmomente: „Mia schläft woanders“ von Pija Lindenbaum

Nun habe ich es endlich geschafft, den diesjährigen  Sieger in der Sparte Bilderbuch des Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreises 2012 zu besorgen. Im Buchhandel gab es Lieferengpässe, in den Berliner Bibliotheken waren alle Exemplare ausgehliehen. Der Preis hat also seine Wirkung gezeigt. Obwohl die Autorin eigentlich schon bekannt sein müsste. In ihrer Heimat Schweden hat sie zahlreiche Preise verliehen bekommen, ihre Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. In Deutschland sind seit 2005 drei Bücher mit ihrer Heldin Franziska (so sollte aber eigentlich keine Heldin heißen, finde ich) erschienen. In bester Pippi-Langstrumpf-Tradition erzählt die Autorin Geschichten von starken Mädchen. So auch in „Mia schläft woanders“. Mia erlebt bei einem Übernachtungsbesuch recht gruselige Dinge und bewegt sich durch Furcht erregende Räume, von Angst ist im ganzen Buch aber niemals die Rede.

Dabei werden einige Kindererfahrungen in eine Geschichte und in Bilder verpackt, die sehr überraschend komponiert sind. Es geht um Gefühle der Fremdheit gegenüber unbekannten Menschen, Räumen und Gewohnheiten, um das Gefühl der Freundschaft, das auf eine Probe gestellt wird, um das Gefühl der Vorfreude und der großen Erwartungen an Ereignisse, die durch das Erleben selbst nicht eingelöst werden können, es geht um die Suche nach Schutz und Hilfe in der Dunkelheit. All diese Erfahrungen, die in „normalen“ Alltagsgeschichten für Kinder unter dem Begriff Angst zusammen gefasst sind, werden aufgedröselt und in einzelnen Szenen genauer betrachtet.

Es ergeben sich somit schöne Perspektivverschiebungen und Rätselhaftigkeiten. Was Cerisia, der Freundin von Mia, vertraut und lieb ist, erscheint der Besucherin unheimlich und abstoßend, wie der Hund der Gastgeberfamilie, der eine eklige Beule auf dem Kopf hat. Im Fokus bleibt dabei allerdings Mias Erleben. Ihre Freundin wird ganz schön abfällig geschildert. Auf einigen Bildern sieht ihre Nase doch sehr stark wie der Rüssel eines Schweins aus. Ihr Verhalten gegenüber dem Übernachtungsgast ist nicht gerade vorbildlich.

Die große Wohnung der Gastfamilie, die beim ersten Besuch sehr beeindruckt, auf den zweiten Blick aber einige Makel hat, wie z.B. Kaffeeflecken auf dem Sofa, erscheint als Kulisse, in der deutlich wird, wie sich Bilder von Menschen, die wir kennen lernen, ergänzen und verschieben, wenn wir in ihre Privatsphäre eingelassen werden. Diese Ergänzungen und Verschiebungen funktionieren auch wunderbar in der Korrespondenz von Text und Bild. Der Text ist an einigen Stellen ganz sparsam und  offen. Erst durch die Bilder wird deutlich, was mit den Worten gemeint sein könnte. Diese Text-Bild-Verbindung finde ich sehr gut gelungen.

So zeigt „Mia schläft woanders“ eine problematische Freundschaft, die durch Mias Fremdheitsgefühle auf eine Probe gestellt wird. Beiläufig wird dann erzählt, wie sich die Situation für Mia und Cerisia auflöst und wie die beiden Mädchen es doch noch schaffen, das Versprechen einer durchquatschten Nacht mit verrückten und gruseligen Geschichten im Dunkeln, einzulösen. Der Schlusssatz relativiert dieses positive Erlebnis sehr stark und holt eine pessimistische Sicht  in die Geschichte zurück. So habe ich als Leserin mich gefragt, wo das Mut machende Moment, das ich in der Literatur sehr schätze, versteckt ist. Ist die Geschichte nicht ein bisschen zu düster und vermittelt eine zu negative Sicht auf Freundschaft und Fremdheitserfahrungen?

Mit dieser sehr subjektiven Frage, möchte ich aber die Rezension nicht beschließen. Denn vom ästhetischen und künstlerischen Standpunkt betrachtet, denke ich, dass „Mia schläft woanders“ ein großartiges Bilderbuch ist, welches die Möglichkeiten des Genres wunderbar ausschöpft und gestaltet.

Pija Lindenbaum: Mia schläft woanders. Verlag Friedrich Oetinger 2011. ab 5 Jahren. 12,95 Euro.

Noch ein Monstermädchen: „Marie und die Nachtmonster“ von Marjane Satrapi

Während das Mädchen Carola aus Kurt Krömers und Jakob Heins „Gute Nacht, Carola“ mich ziemlich genervt hat, bin ich sehr begeistert von der kleinen Marie aus „Marie und die Nachtmonster“ von Marjane Satrapi. Die iranische Autorin und Zeichnerin kannte ich durch ihren beeindruckenden Comic „Persepolis“, der 2004 Furore machte. Ihr Kinderbuch ähnelt mit seinen einfachen und klaren Strichen den Comic-Bildern, ohne dabei ebenso düster zu wirken. Die Nachtmonster sind sehr schelmisch gezeichnet. Ein Katzenkönig aus der Geschichte erinnerte mich an ein „Kultbuch“ aus meiner Kindheit: „Das Katzenhaus“ von Samuil Marschak und Erich Gürtzig.

Maries strahlende Augen nehmen den Betrachter rasch gefangen. So sympathisch wie ihr Gesichtsausdruck ist auch ihre Geschichte erzählt. Marie fürchtet sich vor den Nachtmonstern. Um dieses Problem zu lösen, schneidet sie den Mond aus, sperrt ihn in einen Käfig und bewahrt sein Licht in ihrem Zimmer auf, denn die Monster kommen nur in der Dunkelheit. Ohne Mondlicht können die Katzen jedoch keine Mäuse mehr jagen und die Ratten übernehmen die Herrschaft in der Stadt. Der Katzenkönig sucht gemeinsam mit Marie eine Lösung, die die beiden auch finden, die hier aber nicht verraten werden soll. Besonders imponiert hat mir an der Geschichte der kleinen Marie, das sie zuerst ihr Monster-Problem allein löst, dann aber auch bereit ist, sich helfen zu lassen, als sich herausstellt, das ihre Lösung Nachteile für andere hat. Diese Heldin, die ihre Ängste nicht wegquatscht, ist mir viel lieber als ein Mädchen, das mit ihrer angeblichen Furchtlosigkeit ihre Umwelt in Angst und Schrecken versetzt.

Marjane Satrapi: Marie und die Nachtmonster. Bloomsbury Verlag 2007. ab 4 Jahren. 12,90 Euro.

Monstermädchen: „Gute Nacht, Carola“ von Jakob Hein und Kurt Krömer, mit Bildern von Manuela Olten

An den Themen „Monster“ und „Gutenachtgeschichten“ kommt man bei Bilder- und Vorlesebüchern nicht vorbei, die Geschichten füllen Regale. In der letzten Zeit werden öfters Mädchen mit nächtlichen Monsterbesuchen konfrontiert, z.B. in „Gute Nacht, Carola“ oder „Marie und die Nachtmonster“ (das ich in einem späteren Beitrag vorstellen möchte). Endlich bekommen sie auch das Recht, sich gegen die bösen Geister aus der Dunkelheit zu wehren. Leider wirkt die Heldin aus „Gute Nacht, Carola“ dabei etwas angestrengt. Ob es am ziemlich altmodischen Namen „Carola“ liegt? So heißt doch heutzutage kein Kind …

Carolas hervorstechende Eigenschaft ist jedenfalls die Furchtlosigkeit, wie im Bilderbuch ausführlich erläutert wird. „Carola fand, wer sich nicht fürchtet, hat mehr Zeit zum Spielen“. So viel Selbstbewusstsein ist beeindruckend. Doch in einer Nacht ist plötzlich alles anders, denn ihr Bruder schläft auswärts und der Vater ist verreist – da fehlen wohl die männlichen Beschützer. Carola kann nicht schlafen und eine tiefe, grauenvolle Stimme ruft aus der Dunkelheit nach ihr. Unter ihrem Bett entdeckt sie ein Monster, dem sie mit viel Courage begegnet. Das „Wesen“ und das Mädchen verwickeln sich in eine Diskussion über das „Böse“. Carola redet im weiteren Verlauf das arme Monster in Grund und Boden, bis es nicht mehr böse sein möchte, sondern sich friedlich unters Bett legt.

Carola erinnert mich an eine ziemlich verbissene, neunmalkluge Emanze, die ihre Umwelt nervt und es schafft, den letzten Geheimnissen ihre Würde zu nehmen. Ob das ein Kommentar der Autoren zum Feminismus sein soll? Trotz dieser unangenehmen Heldin und ihrer wenig überzeugenden, seltsamen philosophisch angehauchten Konversation mit dem Monster, beeindrucken in „Gute Nacht, Carola“ der originelle Bildaufbau und die liebevollen Details in Manuela Oltens Illustrationen. Die Seite, auf der Carola Grimassen schneidet, weil sie nicht schlafen kann, ist großartig.

P.S.: „Gute Nacht, Carola“ sollte mein Weihnachtsgeschenktipp werden. Da mir das Buch dann noch nicht so gut gefiel, wollte ich es nicht ohne Weiteres empfehlen.

Jakob Hein, Kurt Krömer: Gute Nacht, Carola. Mit Bildern von Manuela Olten. Carlsen Verlag 2010. ab 4 Jahren. 14,90 Euro.