Das richtige Buch zur richtigen Zeit: „Der Schiet und das Frühjahr“ von Andrus Kivirähk

DerSchietHeute freue ich mich sehr, ein Buch vorstellen zu können, das mich auf den ersten Blick begeistert hat. Es gab so einen kleinen Funken zwischen uns und es passt alles gut zusammen.

Das Buch kommt aus Estland und versammelt 14 Kurzgeschichten für kleine Leute ab 4 Jahren rund um erstaunlich lebendige und ein bisschen verrückte Gegenstände: eierlegende Socken, kannibalistische Heizungen, klammernde Jacken oder kommunizierende Eisflecken. Da steckt viel Humor in den Ideen!

Und Mitgefühl: In der Titelgeschichte beispielsweise sucht ein Hundehaufen einen Platz zum Leben und eine Partnerin. Der arme Haufen ist einsam und braucht Gesellschaft. In Berlin gibt es viele Hundehaufen, mit denen er sich zusammen tun könnte. Die Idee der Geschichte, dass er eine Löwenzahnblüte als Lebensgefährtin findet, scheint mir da aber menschenfreundlicher.

Der Willegoos-Verlag, der mir den herrlichen Band angeboten hat, wirbt damit, dass das Buch das Zeug zum Klassiker habe. Da bin ich einverstanden! Sehr einverstanden bin ich auch mit den Ansprüchen des Verlags, nachhaltige und umweltfreundliche Bücher zu produzieren. So ist „Der Schiet und das Frühjahr“ auf Recyclingpapier gedruckt, ohne Folien, mit mineralölfreien Druckfarben und hergestellt in Berlin (und nicht in China!) .

Durch meine Begeisterung bin ich nun auch ein bisschen früh in der Ankündigung, denn das Buch erscheint erst am 01. März! Aber auf den Frühling warten ja auch alle ungeduldig und in diesem Jahr wird die Geduld auch nicht auf die Probe gestellt. Also rufe ich schon mal ohne schlechtes Gewissen euch zu: Wartet auf den „Schiet und das Frühjahr“!

Andrus Kivirähk: Der Schiet und das Frühjahr. Mit Illustrationen von Meike Teichmann. Willegoos-Verlag Potsdam 2015. 14,95 Euro. Ab 4 Jahren.

Mythologie einer Mutter-Kind-Beziehung: „Die Menschenfresserin“ von Valérie Dayre

Irgendwie bin ich gerade in eimenschenfresserinne kleine frankophile Phase hineingeraten (Ungerer (der aber nicht auf französisch schreibt), Comics aus Belgien, im Original auf französisch). Bei der Beschäftigung mit „Die Menschenfresserin“ von Valérie Dayre fiel mir mal wieder auf, wie verschieden doch die Einstellungen zu Kinderbüchern in unterschiedlichen Ländern sein können. Das Buch wird sehr kontrovers diskutiert, in Deutschland aber mehr kritisiert als in Frankreich.

Eine fürchterliche Frau, ein Monster, verspürt Appetit auf ein Kind. Sie sucht ein Opfer, erweist sich dabei jedoch als sehr wählerisch und sucht überall den größten Leckerbissen. Die Gier, die in ihren Augen steht, erkennen die Menschen sofort und verstecken ihre Kinder vor der Menschenfresserin. Sie wird wütend und trifft schließlich doch ein Kind, das ungeschützt spielt. Nachdem sie dieses Kind gefressen hat, merkt sie, dass es ihr eigenes war.

Im Nachbarland wird das Buch im Unterricht in der Grundschule behandelt, wie mir bei einer kleinen oberflächlichen Internetrecherche schien. In Deutschland ist das anscheinend nicht der Fall. Professionelle Literaturkritiker loben zwar „Die Menschenfresserin“, Eltern können aber nicht so viel damit anfangen. Dabei gehört der Illustrator, Wolf Erlbruch, zu den renomiertesten und anerkanntesten Künstlern seines Fachs in Deutschland.

Ein zentrales Problem, welches das Buch in Deutschland „ungenießbarer“ macht als in Frankreich ist die Sprache. „Die Menschenfresserin“ spielt mit dem Ausdruck „à croquer“, was man mit „etwas oder jemanden zum Fressen gern haben“ übersetzen kann. Zum Inhalt des Buchs passt diese Übersetzung auch gut, nur kommt so eine andere emotionale Ebene ins Spiel. „Croquer“ klingt viel harmloser, gemütlicher, scherzhafter als „zum Fressen“. „Knabbern“ und „Anbeißen“ wären korrekter, aber dann würde die Geschichte keinen Sinn mehr machen. Durch das Verb fressen im Deutschen wird das Furchteinflößende der Bilder betont. Alles ist nur noch düster, während der Text im Französischen viel spielerischer erscheint. Zwar wurden die meisten Wortspiele in der Übersetzung gut übertragen und auch die Binnenreime beibehalten, dennoch ist schon allein der Titel „Die Menschenfresserin“ viel direkter und eindeutiger als „L’ogresse en pleurs“ – eine ogresse verspeist nämlich nicht nur Menschen.

Und so verdeckt der Schock über den grausamen Akt des Fressens die wertvollen Botschaften, die das Buch in sich trägt, z.B. die dass alle Kinder, egal ob groß, klein, dick, dünn, schlau oder dumm, geschützt werden müssen. Oder der Gedanke, dass zu viel Liebe Kindern auch nicht gut tun kann, dass sie sich durch blinde Liebe nicht frei entfalten können. Wie in einem antiken Mythos wird ein Gleichnis der Mutter-Kind-Beziehung entfaltet, der nachdenklich macht und ein psychologisches Muster zum Vorschein bringt, das wahrscheinlich weiter verbreitet ist, als man zuerst einmal meinen könnte.

Valérie Dayre: Die Menschenfresserin. Peter-Hammer-Verlag 1997. ab 5 Jahren. 13,90 Euro.

Noch ein Monstermädchen: „Marie und die Nachtmonster“ von Marjane Satrapi

Während das Mädchen Carola aus Kurt Krömers und Jakob Heins „Gute Nacht, Carola“ mich ziemlich genervt hat, bin ich sehr begeistert von der kleinen Marie aus „Marie und die Nachtmonster“ von Marjane Satrapi. Die iranische Autorin und Zeichnerin kannte ich durch ihren beeindruckenden Comic „Persepolis“, der 2004 Furore machte. Ihr Kinderbuch ähnelt mit seinen einfachen und klaren Strichen den Comic-Bildern, ohne dabei ebenso düster zu wirken. Die Nachtmonster sind sehr schelmisch gezeichnet. Ein Katzenkönig aus der Geschichte erinnerte mich an ein „Kultbuch“ aus meiner Kindheit: „Das Katzenhaus“ von Samuil Marschak und Erich Gürtzig.

Maries strahlende Augen nehmen den Betrachter rasch gefangen. So sympathisch wie ihr Gesichtsausdruck ist auch ihre Geschichte erzählt. Marie fürchtet sich vor den Nachtmonstern. Um dieses Problem zu lösen, schneidet sie den Mond aus, sperrt ihn in einen Käfig und bewahrt sein Licht in ihrem Zimmer auf, denn die Monster kommen nur in der Dunkelheit. Ohne Mondlicht können die Katzen jedoch keine Mäuse mehr jagen und die Ratten übernehmen die Herrschaft in der Stadt. Der Katzenkönig sucht gemeinsam mit Marie eine Lösung, die die beiden auch finden, die hier aber nicht verraten werden soll. Besonders imponiert hat mir an der Geschichte der kleinen Marie, das sie zuerst ihr Monster-Problem allein löst, dann aber auch bereit ist, sich helfen zu lassen, als sich herausstellt, das ihre Lösung Nachteile für andere hat. Diese Heldin, die ihre Ängste nicht wegquatscht, ist mir viel lieber als ein Mädchen, das mit ihrer angeblichen Furchtlosigkeit ihre Umwelt in Angst und Schrecken versetzt.

Marjane Satrapi: Marie und die Nachtmonster. Bloomsbury Verlag 2007. ab 4 Jahren. 12,90 Euro.

Monstermädchen: „Gute Nacht, Carola“ von Jakob Hein und Kurt Krömer, mit Bildern von Manuela Olten

An den Themen „Monster“ und „Gutenachtgeschichten“ kommt man bei Bilder- und Vorlesebüchern nicht vorbei, die Geschichten füllen Regale. In der letzten Zeit werden öfters Mädchen mit nächtlichen Monsterbesuchen konfrontiert, z.B. in „Gute Nacht, Carola“ oder „Marie und die Nachtmonster“ (das ich in einem späteren Beitrag vorstellen möchte). Endlich bekommen sie auch das Recht, sich gegen die bösen Geister aus der Dunkelheit zu wehren. Leider wirkt die Heldin aus „Gute Nacht, Carola“ dabei etwas angestrengt. Ob es am ziemlich altmodischen Namen „Carola“ liegt? So heißt doch heutzutage kein Kind …

Carolas hervorstechende Eigenschaft ist jedenfalls die Furchtlosigkeit, wie im Bilderbuch ausführlich erläutert wird. „Carola fand, wer sich nicht fürchtet, hat mehr Zeit zum Spielen“. So viel Selbstbewusstsein ist beeindruckend. Doch in einer Nacht ist plötzlich alles anders, denn ihr Bruder schläft auswärts und der Vater ist verreist – da fehlen wohl die männlichen Beschützer. Carola kann nicht schlafen und eine tiefe, grauenvolle Stimme ruft aus der Dunkelheit nach ihr. Unter ihrem Bett entdeckt sie ein Monster, dem sie mit viel Courage begegnet. Das „Wesen“ und das Mädchen verwickeln sich in eine Diskussion über das „Böse“. Carola redet im weiteren Verlauf das arme Monster in Grund und Boden, bis es nicht mehr böse sein möchte, sondern sich friedlich unters Bett legt.

Carola erinnert mich an eine ziemlich verbissene, neunmalkluge Emanze, die ihre Umwelt nervt und es schafft, den letzten Geheimnissen ihre Würde zu nehmen. Ob das ein Kommentar der Autoren zum Feminismus sein soll? Trotz dieser unangenehmen Heldin und ihrer wenig überzeugenden, seltsamen philosophisch angehauchten Konversation mit dem Monster, beeindrucken in „Gute Nacht, Carola“ der originelle Bildaufbau und die liebevollen Details in Manuela Oltens Illustrationen. Die Seite, auf der Carola Grimassen schneidet, weil sie nicht schlafen kann, ist großartig.

P.S.: „Gute Nacht, Carola“ sollte mein Weihnachtsgeschenktipp werden. Da mir das Buch dann noch nicht so gut gefiel, wollte ich es nicht ohne Weiteres empfehlen.

Jakob Hein, Kurt Krömer: Gute Nacht, Carola. Mit Bildern von Manuela Olten. Carlsen Verlag 2010. ab 4 Jahren. 14,90 Euro.

Hänschen klein: „Wo die wilden Kerle wohnen“ (Teil 2)

Beim Schreiben meines ersten Blogeintrags zu Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“ fiel mir auf, dass die Mutter in der Geschichte eine recht merkwürdige Rolle einnimmt. Sie schickt Max mit ihrem Wort vom „wilden Kerl“ quasi auf seine Fantasiereise, dann holt der Duft des Essens, das sie in sein Zimmer stellt, den Jungen aber wieder zurück. Dabei kam mir ein Essay des Soziologen Dirk Kaesler vom August 2011 über das Kinderlied „Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein“  bei http://www.literaturkritik. de in den Sinn (hier zu finden).

Von dem bekannten Lied gibt es zwei Versionen. In einer ersten Fassung um 1870 lautet der Text so: „Hänschen klein//Geht allein//In die weite Welt hinein.//Stock und Hut//Steht im gut,//Ist gar wohlgemut.//Aber Mama weinet sehr,//Hat ja nun kein Hänschen mehr!//„Wünsch dir Glück!“//Sagt ihr Blick,//„Kehr’ nur bald zurück!“//Sieben Jahr//Trüb und klar//Hänschen in der Fremde war.//Da besinnt//Sich das Kind,//Eilt nach Haus geschwind.//Doch nun ist’s kein Hänschen mehr.//Nein, ein großer Hans ist er. […]

In einer Lieder-Sammlung um 1900, die eine sehr weite Verbreitung fand, heißt es dann: „Hänschen klein,// ging allein,// in die weite Welt hinein.//Stock und Hut,// stehn ihm gut,// ist auch wohlgemut.// Aber Mutter weinet sehr,// hat ja nun kein Hänschen mehr.//Da besinnt sich das Kind.// Läuft nach Haus geschwind.“

Frappierend ist vor allem, dass in den beiden Fassungen, sich das Verhalten des Kindes grundlegend ändert. Im älteren Text zieht der Junge trotz der Tränen seiner Mutter in die weite Welt. Erst nach sieben Jahren kehrt er zurück und ist ein erwachsener Mann geworden. In der jüngeren Version kehrt er schlechten Gewissens sofort zurück. Dirk Kaesler nennt die erste Fassung eine „Emanzipationsgeschichte“, die zweite dagegen eine „Regressionsgeschichte“. Der Unterschied liegt vor allem in der Dauer des Fortseins begründet, denn zurück kommen beide Hänschen.

In „Wo die wilden Kerle wohnen“ begibt auch Max sich auf eine solche Reise und trennt sich demonstrativ von seiner Mutter. Im Bilderbuch wird diese große Fahrt jedoch sehr ambivalent dargestellt. Einerseits ist der kleine Junge lange unterwegs, angezeigt durch die Zeitangabe „fast ein ganzes Jahr und viele Wochen lang und noch einen Tag“. Andererseits ist das Essen noch warm, als er zurückkehrt. So scheint Max einerseits durch seine Begegnung mit dem wilden Kerlen ein Stück größer geworden zu sein. Andererseits bekommt er schnell Heimweh und eine wirkliche Veränderung des kleinen Jungen thematisiert das Bilderbuch nicht. Max‘ Fantasiereise scheint somit nur eine Vorbereitung der großen Emanzipationsgeschichte zu sein, die den kleinen König der wilden Kerlen noch erwartet.

Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen. Diogenes 1966. ab 3 Jahren. 17,90 Euro.

Fantasie – was ist das?: „Wo die wilden Kerle wohnen“

Endlich haben wir diese Woche eines meiner Lieblingsbücher vorgelesen: den Klassiker „Wo die wilden Kerle wohnen“ von Maurice Sendak, der 2009 von Spike Jonze sogar verfilmt wurde. Ich liebe diese süßen, verschmitzten Monster gegen die der Grüffelo langweilig und dröge aussieht. Außerdem passen die Geschichte und ihre Bilder perfekt zu einigen Verhaltensweisen unseres Sohnes: Auch mein Kind ist ab und zu ein Schaf im Wolfspelz, das gerne Hunde ärgert und dem es nicht wild genug sein kann. Die Mimik des kleinen Max ist ihm teilweise wie aus dem Gesicht geschnitten. Diese funkelnden Blicke, wenn ich mal wieder zu viel drängele und unser Trotzkopf noch Zeit benötigt, für das, was er tut …

Aber hier noch kurz die Geschichte: Weil Max groben Unfug veranstaltet, schimpft seine Mutter ihn „wilder Kerl“ und schickt ihn ohne Abendessen ins Bett. Sein Zimmer verwandelt sich daraufhin in einen Wald. Er steigt in ein Segelboot und fährt zu einer Insel. Dort wohnen die wilden Kerle, große Monster, die Max zuerst ein wenig erschrecken. Dann kann er sie aber mit seinem starren Blick zähmen und wird ihr König. Nach einigen wilden Spielen, lustigen Tänzen und abenteuerlichen Kletterpartien bekommt Max Heimweh und segelt zurück. Wieder in seinem Zimmer angekommen, stellt er fest, dass das Abendessen auf dem Tisch steht und noch warm ist.

Für mich zeigt die Geschichte eindrücklich, wie eine bestimmte Art von Fantasie funktioniert und wozu sie dienen kann: Es wird eine Form von Weltflucht beschrieben, die es dem kleinen Max ermöglicht, den Kummer des Tages zu vergessen. Aber wo kommt sie her, diese Fantasie, die Vorstellung von den „wilden Kerlen“? Für meinen Sohn stellte das eine wichtige Frage dar: Woher kommt das Boot, mit dem Max zur Insel der wilden Kerle fährt? Wie kommt er aus seinem Zimmer heraus und wie wieder hinein? Glücklicherweise ist in den Bildern ein offenes Fenster zu sehen. So kann man erklären, wie Max zum Meer kommt. Aber das Konzept von Vorstellungskraft und Fantasie als solches, ist im Alter von 3 ½ Jahren wohl noch nicht entwickelt.

Die Vorstellung von kindlicher Fantasie als etwas Ursprünglichem und Essentiellem, etwas, das immer schon da ist, bekam durch diese Frage für mich ein paar Risse. Fantasie muss gefüttert werden und aus der Kombination von lauter Bruchstücken entsteht etwas Neues. Das zeigt mir auch „Wo die wilden Kerle wohnen“, denn schließlich gibt die Mutter mit ihrem Wort vom „wilden Kerl“ Max den Anlass für die Imagination der Monster vor. Erstaunlicherweise wird die Mutter in den Zeichnungen ausgespart und vor allem der Geruch des warmen Essens holt Max zurück nach Hause. Diese Merkwürdigkeit zu durchdenken, würde hier aber nun zu weit führen. Ich denke, ich nehme sie demnächst auf, in einem Artikel über „Hänschen-Klein-Geschichten“. „Die wilden Kerle“ geben mir jedenfalls noch viel zu denken und dabei viel Spaß beim Vorlesen.

Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen. Diogenes 1966. ab 3 Jahren. 17,90 Euro.