Da unser Sohn ein großer Eisenbahnliebhaber ist, entsteht bei uns seit einiger Zeit eine kleine Sammlung von Büchern zu diesem Thema. So hatten wir zudem schon mehrfach Gelegenheit, einen Blick in die Welt der Modelleisenbahnen zu werfen, wo sich detailverliebte Experten und faktenversessene Perfektionisten tummeln, wie mir scheint. Die Beschreibung von und das Expertenwissen über Lokomotivtypen, Modellanlagen und Spurbreiten beeindrucken mich meist sehr.
Insbesondere bei der „Interpretation“ von Kinderbüchern äußert sich dieser extreme Einsatz für ein Hobby. Ich war erstaunt, als ich auf den Wikipedia-Artikel zu den Büchern „Thomas, the tank engine and his friends“ von Wilbert V. Awdry (auch genannt The Reverend W. Awdry) stieß. Ein schönes Beispiel für die Sammel- und Dokumentierungsleidenschaft von Modelleisenbahnfreunden, denn die Typen auf denen die Lokomotiven aus den Geschichten zurückgeführt werden können, werden genauestens identifiziert und kategorisiert. Die Kulissen der Fernsehserie, die nach den Büchern produziert wird, werden so exakt beschrieben, dass man die Welt von Thomas und die Insel Sodor, auf der die kleine Lokomotive und ihre Freunde arbeiten, nachbauen könnte.
Dabei finde ich die Modelleisenbahnästhetik, also das Aussehen einer realistisch wirkenden Welt im Miniaturformat mit Fachwerkhäusern, grünen Wiesen und Tannenwäldern, selbst sehr merkwürdig. In der Fernsehserie, die für neuere illustrierte Bücher herangezogen wird, wird diese Ästhetik reproduziert und weiter getrieben. Die Lokomotiven mit Gesichtern und die „Herren von der Eisenbahngesellschaft“ aus Plastik stellen eine Welt dar, die künstlich und zugleich sehr arm an Fantasie daher kommt. Da erscheinen mir die Original-Illustrationen zu den englischen Büchern noch als ganz nett.
Durch ein englisches Original-Pop-Up-Buchvon 1984, mit den Illustrationen von 1957, das uns eine Freundin lieh, kam Thomas, die kleine Lokomotive, zu uns. Dabei machte das Buch uns Vorlesern schon ein paar Schwierigkeiten, denn unser Sohn wollte nach kurzer Zeit nicht mehr den englischen Text hören, sondern nur noch den deutschen. Dabei zeigten sich aber einige Übersetzungsprobleme zwischen uns beiden Vorlesern und es kam zu ständigen Verwirrungen ob wir z.B. „mine“ nun mit Mine oder Grube übersetzen sollten.
Nun verschlimmerte sich die Situation durch ein Mitbringsel: Eine deutsche Geschichte in der oben beschriebenen Modelleisenbahnästhetik. Auf der Insel Sodor kommt eine neue Lokomotive an, die zuerst von den anderen Loks wegen ihres besonderen Aussehens verspottet wird. Bei einem Unfall der kleinen Lok Percy kann sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen und wird daraufhin von ihren Kollegen akzeptiert. Wie in der Geschichte im Pop-Up-Buch ist die kleine Lokomotive Percy hier auch ein Unglücksrabe und Pechvogel. Diese Festlegung des Charakters, die den Kosmos der Eisenbahngesellschaft auszumachen scheint, stört mich. Die Lokomotiven sind noch dazu recht eindimensional beschrieben. Die Miniaturwelt bleibt so überschaubar, vorhersehbar und vermittelt Sicherheit. Eine Entwicklung der „Persönlichkeit“ von Percy oder anderen Loks scheint jedoch nicht vorgesehen zu sein, was mir irgendwie leid tut.
Vielleicht haben wir es mit „Thomas, der kleinen Lok“ noch ganz gut getroffen. Es könnte ja auch „Roary, der kleine Rennwagen“ oder „Bob, der Baumeister“ sein.
The Reverend W. Awdry: Ein neuer Freund für Thomas. Panini Books 2008.
The Reverend W. Awdry: Percy, the small engine takes the plunge. A pop-up book. The Windmill Press 1984.
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