Mehr Maulwürfe! „Paula und Paula“ von Roslyn Schwartz

Vor einiger Zeit wurden beim „Sandmännchen“ mehrere Monate lang wöchentlich Episoden mit den Abenteuern der zwei kleinen Maulwürfe „Paula und Paula“ gezeigt, die wir sehr mochten. Die beiden Krabbler und Wühler hatten einen guten Blick für Naturerscheinungen, erklärten natürliche Phänomene, stellten alltagsphilosophische Fragen und zeigten, wie viele Entdeckungen man in der Natur machen kann. Die TV-Cartoons basieren auf den Erzählungen „The Mole Sisters“ der kanadischen Autorin Roslyn Schwartz. Auf englisch gibt es eine Sammlung mit vielen Abenteuern von „Paula und Paula“, leider nicht auf deutsch. Wir warten sehnsüchtig darauf … Normalerweise werden Fernsehformate in den verschiedensten Kanälen vermarktet. Zu jeder Kinderfernsehserie gibt es auch Bücher. Leider nicht von „Paula und Paula“. Warum?

Roslyn Schwartz: The complete adventures of the mole sisters. Annick Press 2004. ab 2 Jahren. 15,99 Euro.

Bagger vs. Maulwurf: „Der Maulwurf Grabowski“ von Luis Murschetz

Ein Kindheitserinnerungsgespräch mit meinem Mann, der im Westen aufgewachsen ist, machte mich kürzlich auf den Klassiker „Der Maulwurf Grabowski“ von Luis Murschetz aufmerksam. In dem 1971 erschienenen Bilderbuch erzählt der Autor, wie der angestammte Lebensraum eines Maulwurfs – mit dem schönen Namen Grabowski -, durch Landvermesser, Bagger und Baumaschinen zerstört wird. Nach einer dramatischen Vertreibung des kleinen Tieres aus seinem Bau durch die riesigen Maschinen und einer abenteuerlichen Flucht über Eisenbahnschienen sowie Autobahnen, findet Grabowski glücklicherweise eine neue Wiese, auf der das Gras noch saftig und die Erde locker und weich ist. In beeindruckenden Bildern, die anrührend sorgfältig gezeichnet sind – man sieht jeden einzelnen Strich in den Schraffuren, die die Flächen füllen – wird die Bedrohung des Maulwurfs durch Baggerschaufeln, Kettenfahrzeuge und Betonmischer gezeigt.

Nachdem man sich dieses bezaubernde Buch angeschaut hat, wundert man sich überhaupt nicht mehr über Bürger, die gegen Tiefbahnhöfe protestieren. Eine Ideologie der Naturnähe und Maschinenskepsis findet hier beeindruckende Bilder. Der Maulwurf Grabowski ist leider zu klein und zu machtlos, um gegen die Maschinenungetüme zu protestieren, er muss sich ein neues Zuhause suchen. Dafür wird der Leser von seinem Schicksal so sehr berührt, dass er – ähnlich wie der Maulwurf – nur noch die riesigen Schaufeln und den geldgierigen Bauern, den er sowieso nicht leiden kann, sieht. Der Sinn und Zweck der Baumaßnahmen kommt gar nicht in den Blick. Für den Maulwurf Grabowski lohnt es sich auf jeden Fall zu protestieren.

Luis Murschetz: Der Maulwurf Grabowski. Diogenes Verlag 1971. ab 4 Jahren. 15,90 Euro

P.S.: Der „kleine (tchechische) Maulwurf“ bekommt es übrigens in einer Folge auch mit einem Bagger zu tun (hier zu sehen). Im Gegensatz zum Maulwurf Grabowski schafft er es aber, den Bagger auszutricksen. Das „Ungetüm“ muss seine Route ändern, der kleine Garten des Maulwurfs kann bestehen bleiben. In dieser Geschichte ist die Skepsis gegenüber Baumaschinen weniger groß als in Luis Murschetz‘ Bilderbuch, denn das kleine Tier kann die Situation noch beeinflussen, der Bagger wirkt nicht so bedrohlich, das Schicksal nicht so unausweichlich.

Von geschäftsuntüchtigen Handwerkern und findigen Autoverkäufern: Eine Lesung im Seniorenheim

Eigentlich standen Erich Kästner und Loriot auf dem Programm beim ersten ehrenamtlichen Vorlesen des Literaturclubs LesErleben im Pflege- und Förderzentrum St. Anna. Leider fanden wir keine abgeschlossenen Erzählungen von Kästner, die kurz genug gewesen wären, und so entschieden wir uns schließlich für Kurzgeschichten des ungarisch-israelischen Autors Ephraim Kishon. Seine satirischen Beschreibungen von Alltagserlebnissen waren in den 1980er Jahren sehr beliebt und sind heute ein wenig in Vergessenheit geraten. Sie bieten aber viele Anknüpfungspunkte für ein breites Publikum und zeigen, wie schnell der Alltag eskalieren kann. Ein bisschen mulmig war uns schließlich auch bei unserer ersten Vorleserunde: hoffentlich würde hierbei nichts eskalieren. In Kishons Erzählungen wird das ganze Geschehen dann meist mit einem Augenzwinkern gelöst und so lasen wir Geschichten von viel beschäftigten und schwer greifbaren Handwerkern, Installateuren mit einem unseriösen Geschäftsmodell, Autoverkäufern, die das Blaue vom Himmel versprechen und der verzweifelten Suche nach einem Parkplatz.

Unser recht zahlreich erschienenes Publikum, ca. 25 Senioren unterschiedlichen Alters und Pflegestufe, wartete sehr gespannt auf unseren Auftritt. Wir wurden sehr nett von der Heimleitung begrüßt. Die Akustik des Raumes erwies sich als sehr anspruchsvoll für unsere ungeschulten Vorlesestimmen. Während der Lesung trat aber eine fast andächtige Stille ein. Die Reaktionen des Publikums zeigten dann eine große Bandbreite: gespannt Lauschende, aber auch eingeschlafene und ein paar unzufriedene Zuhörer (wegen der mangelnden Lautstärke). Nach unseren vier Geschichten schienen die meisten auch recht erschöpft. Einige hatten es eilig, auf ihr Zimmer zu kommen, denn die Abendbrotzeit war nicht mehr weit. So verhallte unsere Einladung zum Gespräch etwas in der allgemeinen Aufbruchstimmung.

Die Heimleitung zeigte sich aber sehr begeistert von unserem Engagement und lud uns gleich für die demnächst stattfindenden Adventsfeiern ein. Die Leiterin und eine Betreuerin meinten, es wäre wichtig für die alten Menschen, neue Gesichter zu sehen. Durch das Vorlesen käme ein wenig Abwechslung in den Alltag. Diese Einladung nehmen wir gerne an. Und vielleicht kommt Erich Kästner dann doch noch zum Einsatz, denn eine Kästner’sche Weihnachtsgeschichte haben wir schon gefunden.

P.S.: Es gibt auch Kinder-Geschichten von Kishon, die ich aber leider nicht kenne. Hat jemand von euch schon mal davon gehört?

Die wundersame Welt der Modelleisenbahnen: „Thomas, die kleine Lokomotive und ihre Freunde“ von Wilbert V. Awdry

Da unser Sohn ein großer Eisenbahnliebhaber ist, entsteht bei uns seit einiger Zeit eine kleine Sammlung von Büchern zu diesem Thema. So hatten wir zudem schon mehrfach Gelegenheit, einen Blick in die Welt der Modelleisenbahnen zu werfen, wo sich detailverliebte Experten und faktenversessene Perfektionisten tummeln, wie mir scheint. Die Beschreibung von und das Expertenwissen über Lokomotivtypen, Modellanlagen und Spurbreiten beeindrucken mich meist sehr.

Insbesondere bei der „Interpretation“ von Kinderbüchern äußert sich dieser extreme Einsatz für ein Hobby. Ich war erstaunt, als ich auf den Wikipedia-Artikel zu den Büchern „Thomas, the tank engine and his friends“ von Wilbert V. Awdry (auch genannt The Reverend W. Awdry) stieß. Ein schönes Beispiel für die Sammel- und Dokumentierungsleidenschaft von Modelleisenbahnfreunden, denn die Typen auf denen die Lokomotiven aus den Geschichten zurückgeführt werden können, werden genauestens identifiziert und kategorisiert. Die Kulissen der Fernsehserie, die nach den Büchern produziert wird, werden so exakt beschrieben, dass man die Welt von Thomas und die Insel Sodor, auf der die kleine Lokomotive und ihre Freunde arbeiten, nachbauen könnte.

Dabei finde ich die Modelleisenbahnästhetik, also das Aussehen einer realistisch wirkenden Welt im Miniaturformat mit Fachwerkhäusern, grünen Wiesen und Tannenwäldern, selbst sehr merkwürdig. In der Fernsehserie, die für neuere  illustrierte Bücher herangezogen wird, wird diese Ästhetik reproduziert und weiter getrieben. Die Lokomotiven mit Gesichtern und die „Herren von der Eisenbahngesellschaft“ aus Plastik stellen eine Welt dar, die künstlich und zugleich sehr arm an Fantasie daher kommt. Da erscheinen mir die Original-Illustrationen zu den englischen Büchern noch als ganz nett.

Durch ein englisches Original-Pop-Up-Buchvon 1984, mit den Illustrationen von 1957, das uns eine Freundin lieh, kam Thomas, die kleine Lokomotive, zu uns. Dabei machte das Buch uns Vorlesern schon ein paar Schwierigkeiten, denn unser Sohn wollte nach kurzer Zeit nicht mehr den englischen Text hören, sondern nur noch den deutschen. Dabei zeigten sich aber einige Übersetzungsprobleme zwischen uns beiden Vorlesern und es kam zu ständigen Verwirrungen ob wir z.B. „mine“ nun mit Mine oder Grube übersetzen sollten.

Nun verschlimmerte sich die Situation durch ein Mitbringsel: Eine deutsche Geschichte in der oben beschriebenen Modelleisenbahnästhetik. Auf der Insel Sodor kommt eine neue Lokomotive an, die zuerst von den anderen Loks wegen ihres besonderen Aussehens verspottet wird. Bei einem Unfall der kleinen Lok Percy kann sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen und wird daraufhin von ihren Kollegen akzeptiert. Wie in der Geschichte im Pop-Up-Buch ist die kleine Lokomotive Percy hier auch ein Unglücksrabe und Pechvogel. Diese Festlegung des Charakters, die den Kosmos der Eisenbahngesellschaft auszumachen scheint, stört mich.  Die Lokomotiven sind noch dazu recht eindimensional beschrieben. Die Miniaturwelt bleibt so überschaubar, vorhersehbar und vermittelt Sicherheit. Eine Entwicklung der „Persönlichkeit“ von Percy oder anderen Loks scheint jedoch nicht vorgesehen zu sein, was mir irgendwie leid tut.

Vielleicht haben wir es mit „Thomas, der kleinen Lok“ noch ganz gut getroffen. Es könnte ja auch „Roary, der kleine Rennwagen“ oder „Bob, der Baumeister“ sein.

The Reverend W. Awdry: Ein neuer Freund für Thomas. Panini Books 2008.

The Reverend W. Awdry: Percy, the small engine takes the plunge. A pop-up book. The Windmill Press 1984.

Unsinnspoesie mit verknoteter Zunge: Eugène Ionescos „Geschichte Nummer 1“

Dieses Buch ist eine Herausforderung für Vorleser – aber eine sehr lustige! Der in Rumänien geborene und nach Frankreich emigrierte Theaterschriftsteller Eugène Ionesco (1909-1924) hat eine kleine Reihe von Kinderbüchern geschrieben, die in den meisten Werkverzeichnissen nicht genannt sind, aber großartige kleine Kunstwerke darstellen.

Die „Geschichte Nummer 1 – „für Kinder unter drei Jahren“ – zuerst erschienen 1967, illustriert von Etienne Delessert, beginnt mit einer für Eltern gut bekannten und öfters erlittenen Situation. Die kleine Josette weckt ihre Eltern auf. Diese waren am Abend vorher im Theater, in einem Restaurant und in einem Nachtclub. Dementsprechend sind sie müde und genervt. Zuerst kann noch die Haushälterin Jacqueline helfen und ablenken, aber dann hilft es alles nichts: Der Papa soll eine Geschichte erzählen. Im Halbschlaf beginnt der Vater zu erzählen:

„’Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Jacqueline.‘ ‚Wie Jacqueline?‘ erkundigt sich Josette. ‚Ja, sagt Papa, ‚aber es war nicht Jacqueline. Jacqueline war ein kleines Mädchen. Es hatte eine Mama, die Frau Jacqueline hieß. Der Papa der kleinen Jacqueline hieß Herr Jacqueline. Die kleine Jacqueline hatte zwei Schwestern, die alle beide Jacqueline heißen, und ….“

So setzt sich die Erzählung über fünf Seiten fort, wird kurz unterbrochen durch die Haushälterin, die die Tochter zum Einkaufen mitnimmt, und wird dann fortgesetzt als Josette ein kleines Mädchen names Jacqueline trifft und von der Familie Jacqueline erzählt. So taucht im ganzen Buch 48mal der Name „Jacqueline“ auf.

Nach der Lektüre dieser Geschichte hat man als Vorleser wahrlich einen Knoten in der Zunge von den häufigen Wiederholungen. Aber dank der schönen Illustrationen ist man eingetaucht in eine Welt voller kleiner Geschichten und Fabelwesen. Außerdem wird man ein bisschen über morgendliche Erschöpfungszustände hinweg getröstet. Denn auch eine Haushälterin in einer großbürgerlichen Familie, die das Frühstück ans Bett bringt, kann diese anstrengende Situation nicht retten. Wann war ich bloß das letzte Mal – an einem Abend – im Theater, im Restaurant und im Nachtclub?

Nebenbei erfährt man durch die „Geschichte Nummer 1“ auch etwas über das Geschichtenerzählen an sich: Hinter Namen und Wörtern verstecken sich oftmals Geschichten. Das zeigt auch das Cover des Bilderbuchs: Hier sieht man eine große Eins. Aus einem Fenster winkt Josette und im Hintergrund sind Mitglieder der Familie Jacqueline zu sehen. Die Eins ist ein Wort, ein Haus, ein Zeichen: Dahinter verbirgt sich eine ganze Welt. Und die kann ganz schön verrückt sein. Zumindest findet die Haushälterin, dass der Papa verrückte Geschichten erzählt. Aber der war ja einfach nur müde.

Ich freue mich schon auf die „Geschichte Nummer 2“. Leider muss ich noch ein bisschen suchen, denn beide Bücher werden nicht mehr aufgelegt und der zweite Band scheint noch seltener zu sein als die „Geschichte Nummer 1“. Ich warte jedenfalls auf einen akzeptablen Preis für das antiquarische Buch. Oder auf Weihnachten …

Eugène Ionesco: Geschichte Nummer 1. Friedrich Middelhauve Verlag 1969. ab 3 Jahren. Wird nicht mehr aufgelegt, nur antiquarisch erhältlich.

Was man alles mit Büchern anstellen kann: Für die Allerkleinsten

Ich bin immer wieder erstaunt, was man alles mit Büchern anstellen kann und was sich schlaue Menschen einfallen lassen, um das Medium Buch in das Weltentdecken und Lernen von Babys und Kleinkindern einzubeziehen. Es gibt Fühlbücher, Klappenbücher, Gucklochbücher, Kugelbücher, Schiebebücher und und und

Eine Idee fand ich kürzlich sehr interessant. Ein kurzer Blick in die Bewertungen bei einem Internetbuchhändler wies dann aber auf ein Problem von Babyspielzeug, an das ich ich mich nur allzu lebhaft erinnere: Die Vorstellungen der Hersteller wollen partout nicht zum tatsächlichen Gebrauch, den die Babys davon machen, passen. Unsere Schnuffltücher konnten noch so viele hübsche Stofffähnchen haben, gelutscht hat unser Kind nur an den „echten“ Etiketten.

Genauso scheint es bei  „Mein erstes Buch zum Anbeißen“ zu sein. Das Pappbuch hat Plastikecken, die mit Einkerbungen und Riffelungen versehen sind. Perfekt also für 10 Monate alte, zahnende Babys. Leider war es produktionstechnisch scheinbar nur möglich, die beiden äußeren Kanten mit Plastikecken zu versehen. Die Bindungsecken weisen keinen Schutz auf, so dass sie schnell durch- und aufgeweicht sind, vom intensiven Dranlutschen … Vielleicht weicht man im Alter von 6 Monaten erst mal lieber auf Stoffbücher aus.

Regina Schwarz / Katja Senner: Mein erstes Buch zum Anbeißen. Ravensburger Verlag 2011. ab 6 Monaten. 8,99 Euro.

Bücher für „neue Väter“: Willi Wiberg

Im Moment macht sich der „Spiegel“ gerade auf die Suche nach „neuen Vätern“ und beklagt deren oberflächliche Beteiligung im Haushalt und in der Kinderbetreuung (hier z.B. ein Artikel vom 07.11.). Wenn Frau und Mann dann mal die Rollen tauschen, treffen sie auf Kinderbücher, die traditionelle Rollenverteilungen zementieren. Im Blogeintrag über die „Conni-Bücher“ hatte ich mich über das veraltete Rollenbild beschwert, das die Bände vermitteln.

Durch den Tipp einer Freundin bin ich auf eine, neben anderen, vielversprechende Alternative gestoßen. Und die kommt – wie könnte es auch anders sein – aus Skandinavien! Der kleine Willi Wiberg, ein Geschöpf der schwedischen Autorin Gunilla Bergström, kämpft sich in zahlreichen Bänden gemeinsam mit seinem Papa durch den Alltag. Ich habe kürzlich die Geschichte „Mach schnell, Willi Wiberg“ ausgeliehen und war ganz angetan von den charmanten Zeichnungen mit collagenähnlichen Elementen sowie der augenzwinkernden Geschichte. Der kleine Junge trödelt morgens und lässt sich von den Ermahnungen seines Vaters, dass es doch Zeit für den Kindergarten sei, nicht aus der Ruhe bringen. Eine Mutter kommt in diesem Band gar nicht vor. Und auch in den anderen Geschichten werden nur Willis Tante oder seine Großmutter kurz erwähnt.

Die Geschichten erscheinen schon seit Anfang der 1970er Jahre. Der letzte Band wurde 2006 veröffentlicht. Viele Bücher kann man in Neuauflagen beim Oetinger Verlag kaufen, einige Bände gibt es nur noch antiquarisch. Da wird doch glatt die Sammlerleidenschaft geweckt!  Ich glaube, Willi Wiberg und ich, wir werden Freunde. Ich muss nur noch meinen Mann von diesem neuen Freund berichten …

Gunilla Bergström: Mach schnell, Willi Wiberg. Oetinger Verlag 1976 (Neuauflage 2009). ab 4 Jahren. 9,90 Euro.

Hänschen klein: „Wo die wilden Kerle wohnen“ (Teil 2)

Beim Schreiben meines ersten Blogeintrags zu Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“ fiel mir auf, dass die Mutter in der Geschichte eine recht merkwürdige Rolle einnimmt. Sie schickt Max mit ihrem Wort vom „wilden Kerl“ quasi auf seine Fantasiereise, dann holt der Duft des Essens, das sie in sein Zimmer stellt, den Jungen aber wieder zurück. Dabei kam mir ein Essay des Soziologen Dirk Kaesler vom August 2011 über das Kinderlied „Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein“  bei http://www.literaturkritik. de in den Sinn (hier zu finden).

Von dem bekannten Lied gibt es zwei Versionen. In einer ersten Fassung um 1870 lautet der Text so: „Hänschen klein//Geht allein//In die weite Welt hinein.//Stock und Hut//Steht im gut,//Ist gar wohlgemut.//Aber Mama weinet sehr,//Hat ja nun kein Hänschen mehr!//„Wünsch dir Glück!“//Sagt ihr Blick,//„Kehr’ nur bald zurück!“//Sieben Jahr//Trüb und klar//Hänschen in der Fremde war.//Da besinnt//Sich das Kind,//Eilt nach Haus geschwind.//Doch nun ist’s kein Hänschen mehr.//Nein, ein großer Hans ist er. […]

In einer Lieder-Sammlung um 1900, die eine sehr weite Verbreitung fand, heißt es dann: „Hänschen klein,// ging allein,// in die weite Welt hinein.//Stock und Hut,// stehn ihm gut,// ist auch wohlgemut.// Aber Mutter weinet sehr,// hat ja nun kein Hänschen mehr.//Da besinnt sich das Kind.// Läuft nach Haus geschwind.“

Frappierend ist vor allem, dass in den beiden Fassungen, sich das Verhalten des Kindes grundlegend ändert. Im älteren Text zieht der Junge trotz der Tränen seiner Mutter in die weite Welt. Erst nach sieben Jahren kehrt er zurück und ist ein erwachsener Mann geworden. In der jüngeren Version kehrt er schlechten Gewissens sofort zurück. Dirk Kaesler nennt die erste Fassung eine „Emanzipationsgeschichte“, die zweite dagegen eine „Regressionsgeschichte“. Der Unterschied liegt vor allem in der Dauer des Fortseins begründet, denn zurück kommen beide Hänschen.

In „Wo die wilden Kerle wohnen“ begibt auch Max sich auf eine solche Reise und trennt sich demonstrativ von seiner Mutter. Im Bilderbuch wird diese große Fahrt jedoch sehr ambivalent dargestellt. Einerseits ist der kleine Junge lange unterwegs, angezeigt durch die Zeitangabe „fast ein ganzes Jahr und viele Wochen lang und noch einen Tag“. Andererseits ist das Essen noch warm, als er zurückkehrt. So scheint Max einerseits durch seine Begegnung mit dem wilden Kerlen ein Stück größer geworden zu sein. Andererseits bekommt er schnell Heimweh und eine wirkliche Veränderung des kleinen Jungen thematisiert das Bilderbuch nicht. Max‘ Fantasiereise scheint somit nur eine Vorbereitung der großen Emanzipationsgeschichte zu sein, die den kleinen König der wilden Kerlen noch erwartet.

Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen. Diogenes 1966. ab 3 Jahren. 17,90 Euro.

Vorlesen ohne Text: „Die ganze Welt“ von Antonin Louchard und Katy Couprie

Ich glaube, ich bin ein ziemlicher Wortmensch und keine gute Bildervorleserin. Mit Wimmelbüchern und Bilderbüchern ohne Text habe ich so meine Schwierigkeiten: Ich habe gerne vorgegebene Worte zum Vorlesen, denn ich muss mir eh den ganzen Tag Erklärungen und Antworten auf „Warum?-Fragen“ ausdenken. Da bin ich ganz dankbar, wenn ich „nur“ vorlese und mich auf das verlassen kann, was geschrieben steht. Zudem scheint mein „Wortefindungsareal“ im Gehirn blockiert zu sein, sobald es zu viele Bilder gibt. Warum sollte ich etwas beschreiben, was man doch schon im Buch sehen kann?

Außerdem finde ich die Situation unangenehm, wenn ich meinem Kind dauernd Fragen stellen muss, um eine Unterhaltung über das Buch in Gang zu bringen: „Und was ist das? Und was siehst du da?“ Das erinnert mich zu sehr an Schulstunden. Aber wahrscheinlich ist das auch eine Altersfrage. Inzwischen stellt unser Sohn selbst viele Fragen zu Büchern. So macht das Anschauen von Bilderbüchern ohne Text inzwischen auch mir mehr Spaß. Allerdings habe ich scheinbar die Veranlagung zur Wortliebhaberin an unseren Sohn weitergegeben. Er schaut sich fast nie Bücher allein an, ohne dass ich ihm vorlese. Dafür liebt er es, sich Geschichten zu erzählen zu lassen, und zwar ohne Bücher und Bilder.

Habt ihr schon ähnliche Beobachtungen gemacht: Seid ihr Bilder- oder Wortmenschen? Und überträgt sich diese Vorliebe auf eure Kinder?

Trotzdem versuche ich ein wenig, ihm die Welt der Bilder nahe zu bringen. Mein bisheriges Lieblingsbuch ohne Text ist „Die ganze Welt“ von Antonin Louchard und Katy Couprie. Hier sind die Bilder assoziativ angeordnet, nach dem Prinzip „ein Motiv  – ein Bild“, und mit vielen verschiedenen Bildtechniken gestaltet. Das Buch beginnt zum Beispiel mit der Zeichnung eines Stuhls, auf der nächsten Seite folgen verschiedene Arten von Sitzgelegenheiten und wiederum auf der nächsten Seite ein Töpfchen, auf dem ein Kind sitzt. Dann eine Toilette, dann ein Abfluss, dann ein Schwamm, dann eine Flasche mit Spülmittel, dann ein Spülbecken, in dem eine Milchflasche schwimmt, dann Utensilien zum Frühstück, dann eine Kuh, dann eine Wiese, dann ein Bart, und so weiter und so weiter. Fotos wechseln sich ab mit Collagen, mit Zeichnungen, mit Scherenschnitten. Zahlreiche Möglichkeiten, die Welt abzubilden, werden so ausprobiert. Es macht Spaß zu überlegen, wie die Bilder zusammenhängen. Mit 256 Seiten hält dieser Spaß auch ziemlich lange an.

Manchmal sind einzelne Bilder sehr gewöhnungsbedürftig und entsprechen nicht den gewohnten Darstellungskonventionen, z.B. sind einige Szenen mit Puppen aus Pappmaché nachgestellt und fotografiert. Diese Puppen sehen sehr merkwürdig aus. Diese Merkwürdigkeiten führen aber dazu, dass man nicht nur über die Zusammenhänge zwischen den Seiten, sondern auch über einzelne Bilder nachdenkt. Hier zeigt sich auch ein großer Vorteil, den Bilderbücher ohne Text haben können: Man kann sie immer wieder anders einsetzen. Und mit dem Alter der Kinder verändert sich auch die Benutzung des Buches. Interessant ist dabei auch zu beobachten, wie sich die Vorlieben wandeln. Als mein Sohn mit 2 Jahren das Buch durchblätterte, liebte er das Foto von einem Jungen mit einer großen, roten Brille. Inzwischen überblättert er das Foto und schaut sich fasziniert die Autowerkstatt an. Die „vorgeschriebene Benutzung“, also eine Diskussion über die Bilder, funktioniert scheinbar erst ab einem Alter von 4 Jahren.Das Durchblättern, Anschauen und die Erzählungen zu den Seiten machen aber auch schon kleineren Kindern Freude.

Katy Couprie und Antonin Louchard: Die ganze Welt. Gerstenberg Verlag 2001. ab 4 Jahren. 15,90 Euro.