Mauergeschichte(n): „Von Kaisern und Barbaren. Der Bau der Großen Chinesischen Mauer“ von Cornelia Hermanns

Wir haben im FrüMauer2hjahr eine große Reise gemacht. Zuerst waren wir einige Tage in Hong Kong, dann sind wir im Süden Chinas gereist. Neben vielen Eindrücken und Geschichten haben wir auch ein großes Interesses für die chinesische Kultur und die Geschichte des riesigen Reiches mitgebracht.

Dazu passend habe ich dann im Museumsshop des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem ein tolles Buch gefunden, das uns mehrere Wochen begleitet hat. Es erzählt die Geschichte der Großen Chinesischen Mauer – dieses Megabauwerks, das vom Weltall aus zu sehen sein soll. Eigentlich ist das Buch für einen Sechsjährigen zu komplex, dennoch hat mein Sohn es gern gehört, wenn ich vom ersten Kaiser von China Quin Shi Huangdi, von den Mongolen und anderen „barbarischen“ Völkern wie den Xiongnu und den Mandschu oder von der Ming-Dynastie vorgelesen habe.

Trotz der schwierigen Namen hat mir das Vorlesen große Freude bereitet, denn der Text ist spannend geschrieben und sehr übersichtlich gegliedert. Die Historikerin Cornelia Hermanns versteht es gut, die Daten und Fakten in Geschichten zu verpacken. Die Geschichten umklammert sie mit einer Systematik, die spannende Facetten aufdeckt. Sie erzählt nicht nur von der politik- und militärgeschichtlichen Entstehung der Mauer, sondern auch vom Leben und Sterben der Soldaten, die die Mauer bauen und bewachen mussten. Die immense Bedeutung und Grausamkeit des Bauwerks, das auch „Größter Friedhof der Welt“ genannt wird, zeigt sich so sehr anschaulich.

Der Text im Zusammenspiel mit wunderschönen Tuscheillustrationen von Gregor Körting schafft es, die fremde Kultur mit Phantasie zu verbinden. In Anlehnung an die traditionelle chinesische Malerei zeichnet der Illustrator mit sanften aber bestimmten Strichen faszinierende Bilder der fremden Kultur. Die unaussprechbaren Namen werden plötzlich vertraut und gehen fließend über die Lippen. Wer für die Namen und Begriffe Hilfe in Anspruch nehmen möchte, kann auf der Webseite des Drachenhaus-Verlags ein Glossar mit Audiodateien zur korrekten Aussprache finden. Die Autorin und der Illustrator fanden auch eine schöne Form für eine Überblickszeitleiste im Bucheinband: Ein verschlungener gemauerter Weg fasst die wichtigsten Stationen in der Geschichte der Großen Mauer zusammen.

Am letzten Wochenende stand die Berliner Mauer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wer sich weiter mit Mauern beschäftigen möchte, dem sei dieses Sachbuch wärmstens empfohlen. Die Große Chinesische Mauer steht noch immer und erinnert an die zahlreichen Funktionen, die Mauern in der Geschichte der Menschheit haben.

Cornelia Hermanns: Von Kaisern und Barbaren. Der Bau der Großen Chinesischen Mauer. Mit Illustrationen von Gregor Körting. Esslingen: Drachenhaus-Verlag 2012. ab 12 Jahren. 22,80 Euro.

P.S. Im Programm des Drachenhaus-Verlags gibt es noch weitere Titel zur chinesischen Geschichte von Cornelia Hermanns und Gregor Körting. Wenn ich die Cover sehe, werde ich wieder ganz neugierig und fühle wie das Reisefieber und der Wissensdurst in mir wach werden.

Heute kein Frühjahrsputz: „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame

wind in den weidenSo beginnt der wunderbare englische Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame, erschienen 1908, den ich euch unbedingt ans Herz legen möchte. Ich hatte damit in den letzten Tagen ein großes Lesevergnügen:

„Den ganzen Vormittag hatte der Maulwurf geschuftet: In seinem kleinen Haus war der Frühjahrsputz ausgebrochen. Zuerst mit Besen und Staubtuch, dann auf Leitern und Stühlen und drittens mit Pinsel und Tünche. […] Der Frühling rumorte oben in der Luft herum und unten in der Erde herum und rund um den Maulwurf herum. Er drang in sein dunkles und bescheidenes Haus und brachte seine eigenen Launen mit: die Unzufriedenheit der Götter und die Sehnsucht. So kann es nicht erstaunen, wenn der Maulwurf plötzlich den Pinsel zu Boden schleuderte, ‚Schwachsinn!‘ und ‚Mit  mir nicht!‘ sagte sowie ‚Zum Henker mit dem Frühjahrsputz‘ und aus dem Haus schoß ohne auch nur einen Mantel überzuziehen.“

Der Maulwurf wältzt sich dann auf einer Wiese. Er fühlt sich prächtig: „Sein Gewissen verhielt sich ganz ruhig: Es quälte ihn nicht und flüsterte ihm nicht ‚Tünche!‘ ins Ohr. Statt dessen fühlte er sich prächtig – als einziger Faulpelz unter diesen tüchtigen Mitbürgern. In den Ferien ist vielleicht nicht das Nichtstun am schönsten, sondern: das Anderen-Leuten-beim-etwas-tun-Zusehen.“

Der Maulwurf geht zum Fluss, den er noch nie zuvor gesehen hat: „Er bebte und bibberte, glänzte und glibberte und sprühte Funken, er rauschte und strudelte, schwatzte und blubberte. Der Maulwurf war bezaubert, verhext und angetan.“

Am Fluss lernt er die Wasserratte kennen, die beiden werden Freunde und erleben einige Abenteuer mit dem adligen Kröterich, der ein Faible für schnelle Autos hat und durch diese Schwäche in große Schwierigkeiten gerät.

Im Laufe der Geschichte werden die schönen Stellen, die im ersten Kapitel so leuchten und begeistern, weniger. Die zahlreichen Charakterstudien von Tieren und die Beschreibung ihres höflichen, oft konflikthaften, aber sehr freundschaftlichen Umgangs miteinander bereiten dennoch viel Vergnügen. Und immer wieder sind schöne, poetische Naturbeschreibungen mit zahlreichen Wörtern, denen man in der Alltagssprache selten begegnet, eingestreut, die eine große Freude an Natur und Beobachtung vermitteln.

Ich habe eine antiquarische Ausgabe von 1973, übersetzt von Harry Rowohlt, mit Bildern von John Burningham, dessen Zeichenstil mich sehr interessiert. Noch schöner sieht aber auch die Ausgabe vom Kein und Aber Verlag von 2004 aus, ebenso in der Übersetzung von Harry Rowohlt, mit Originalillustrationen von E.H. Shepherd, der auch „Pu, der Bär“ bebildert hat. Ein prachtvolles Buch, auch ohne Frühjahrsputz!

Kenneth Grahame: Der Wind in den Winden. Ein Roman für Kinder. Deutsch von Harry Rowohlt. Kein und Aber Verlag Zürich 2004. ab 8 Jahren. 24,80 Euro.

P.S.: Es gibt zahlreiche Adaptionen, Verkürzungen, Auszüge, Varianten und auch Verfilmungen. Die Literaturwissenschaftlerin in mir würde immer auf das ungekürzte Original zurückgreifen.

Vorlesekapitulation?: „Urmel aus dem Eis“ von Max Kruse

Vor kurzem isurmelt der Kinderbuchklassiker „Urmel aus dem Eis“ zu uns gekommen und mutigerweise habe ich mich Hals über Kopf ins Vorlesen gestürzt. Und dann musste ich feststellen: Was für eine schwierige Aufgabe! Dieses Buch halbwegs adäquat vorzulesen, ist mir fast umöglich. Warum?

Hier der Hintergrund der Handlung: Auf der Insel Titiwu leben Professor Habakuk Tibatong, viele Tiere und Tim Tintenkleks glücklich und zufrieden. Das Schwein Wutz führt den Haushalt. Alle Tiere gehen freiwillig in die Sprachschule des Professors – doch alle haben ihre unverkennbare, individuelle Sprechweise. Der Waran Wawa lebt in einer Muschel am Strand von Titiwu. Er hat Probleme mit dem z und sagt stattdessen immer tsch. Ping, ein Pinguin, ist neidisch auf Wawas Muschel und möchte gerne auch eine haben. Sein Sprachproblem ist das sch; er sagt stattdessen pf – so streitet er sich mit Wawa um die „Mupfel“. Daneben gibt es Schusch, den Schuhschnabel, der ä statt dem i setzt. Außerdem ist da noch Seele-Fant, ein See-Elefant, der gerne und oft traurige Lieder singt. Wegen seines Sprachfehlers, statt einem i und e ein ö zu singen, klingt sein Lieblingslied so: „Öch weiß nöcht, was soll ös bedeuten …“

Diese individuellen Sprechweisen sind eine echte Herausforderung für mich als Vorleserin, sie verursachen mir Knoten in der Zunge. Ich habe das Gefühl, man muss den Tierstimmen einen bestimmten Klang geben, um ihre Sprache vorlesen zu können – ich bin allerdings nicht besonders begabt im Stimmen- und Spracheimitieren. Da ich zur Zeit Deutsch als Fremdsprache unterrichte, werde ich öfters nach deutschen Dialekten gefragt. Mein „Kölsch“, „Sächsisch“ oder „Bayrisch“ klingt dann aber immer sehr sehr ungelenk und noch irgendwie sehr hochdeutsch. Genauso geht es mir mit der Variation von Stimmen in Vorlesetexten. Alles klingt mehr oder weniger gleich und ich habe das Gefühl, ich stottere und stammle.

Dabei finde ich die Idee mit den Sprachfehlern sehr einleuchtend und kindgerecht. So können sich die kleinen Sprachlerner, die oft selbst noch manche Laute nicht standardsprachengerecht bilden, gut wiedererkennen. Und lustig sind diese Sprachfehler natürlich auch. Allerdings machen sie mir ein bisschen Probleme beim Verständnis der Geschichte. Vor lauter Zungenverknotung bekomme ich oft nicht mit, was denn eigentlich passiert im Text.

Daher habe ich mir mal eine Zusammenfassung gesucht, die ich euch nicht vorenthalten möchte: Eines Tages schmilzt ein angeschwemmter Eisblock und ein Urmel-Ei wird freilegt. Gemeinsam brüten die Tiere von Titiwu das Urmel aus. Leichtfertig teilt der Professor Habakuk Tibatong per Flaschenpost der Welt mit, dass es Urmels gibt. Das ruft König Futsch, der in der Demokratie eigentlich kein König mehr ist, auf den Plan. Er will das Urmel fangen und in sein Königreich tot oder lebendig bringen. Allerhand Aufregung und Turbulenz folgen.

Die Inhalte der Geschichte finde ich schon ganz spannend. Ein König, der eigentlich kein König mehr ist? Ein Forscher, dessen Forschungsergebnisse nicht anerkannt werden? Was hat das wohl zu bedeuten? Um diese Fragen zu beantworten, muss ich mich aber wohl noch einige Male durch die Sprachfehler durcharbeiten. Mal sehen, ob unser Sohn da mitmacht. Oder ob ich doch auf die Zeichentrickversion – oder auf die Augsburger Puppenkiste – oder auf ein Hörbuch mit Dirk Bach ausweiche?

Max Kruse: Urmel aus dem Eis. Thienemann-Verlag 1995. ab 8 Jahren. 9,95 Euro.

Unsere Leben als Roboter: „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ von Boy Lornsen

robbie tobbieIn den letzten Wochen habe ich ziemlich viel gearbeitet. Zwischen Arbeitsweg, Kita, Spülmaschine, Waschmaschine und Supermarkt spielte sich ein fremd bestimmter Alltag ein, den ich längere Zeit nicht hatte. Da brachten mir ein Vorlesebuch und Unterhaltungen mit unserem Sohn darüber eine schöne Metapher, die meinen Zustand in Worte fasste: Ich fühlte mich oft wie ein Roboter, ferngesteuert, ohne eigenen Antrieb, auf das Funktionieren für andere ausgerichtet.

Die Metapher kam durch „Robbi, Tobbi und das Fliewatüt“ von Boy Lornsen zu uns, einem Kinderbuchklassiker aus dem Jahre 1967, mit Zeichnungen des Jim-Knopf-Illustrators F.J.Tripp, die gleich ein vertrautes Gefühl vermittelten.

Tobias Findteisen, genannt Tobbi, besucht die dritte Klasse der Volksschule und ist Erfinder des Fliewatüüts, eines universalen Fortbewegungsmittels. Denn es kann wie ein Flugzeug fliegen, wie ein Schiff auf dem Wasser schwimmen und wie ein Auto als Landfahrzeug fahren – daher das tüüt. Angetrieben wird das Fliewatüüt mit dem Himbeersaft von Tante Paula, später wird dieser Treibstoff durch Lebertran ersetzt. Tobbi ist Kopilot des Fliewatüüts. Der Pilot heißt ROB 344–66/IIIa, wird aber aus verständlichen Gründen Robbi genannt. Robbi ist in der dritten Klasse der Robotschule. Gemeinsam machen sich die beiden im Fliewatüüt auf, um für Robbi drei Roboterprüfungsaufgaben zu lösen: 1. Aufgabe: Wie viele Treppenstufen hat der gelb-schwarz-geringelte Leuchtturm? 2. Aufgabe: Wer steht am Nordpol und fängt mit „Z“ an? 3. Aufgabe: Suche die dreieckige Burg mit den dreieckigen Türmen und ergründe ihr Geheimnis!

Durch die gemeinsame Lösung der Aufgaben wird Tobbis Traum vom Fliegen mit dem Fliewatüüt Wirklichkeit und Robbi kann in die nächste Roboterklasse versetzt werden. Die beiden Freunde ergänzen sich perfekt. Der kleine Roboter gleicht die Schwächen des Jungen aus. Er kann die weite Strecke vom Nordpol nach Schottland (wo die dreieckige Burg steht) weiter fliegen, wenn Tobbi müde ist. Er benötigt weniger Nahrung als das Menschenkind, nur ab und zu ein bisschen Öl.

Leider besitze ich nicht so viele Roboter-Qualitäten – ich brauche Schlaf und regelmäßige Nahrung ist wichtig. Und Teleskoparme habe ich leider auch nicht. Die hatte sich hingegen unser Sohn vorgestellt. Ein paar Tage lang fuhr er sie am Tisch aus und plötzlich konnte er wundersame Dinge, die vorher der Mama-Roboter erledigen musste, wunderbar selbst verrichten. Auch den Spiral-Hals hatte er von Robbie übernommen und war über Nacht 10cm gewachsen. Die „Ich-bin-ein-Roboter“-Phase dauerte nicht lange an (das Vergnügen am Buch hielt aber schon ein paar Wochen), worüber ich einerseits ein bisschen traurig war, denn Roboter sind irgendwie selbstständiger als Menschenjungen. Ich mich andererseits aber auch freute, denn die Kommunikation mit einem Maschinenkind ist schwierig. Die Maschine war noch eigensinniger als das normale Kind und das raubte der Roboter-Mama mehr Kräfte als der Alltag zwischen Arbeit, Haushalt und Kinderbetreuung.

Boy Lornsen: Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt. Thienemann Verlag 1967. 12,00 Euro. ab 8 Jahren (als Vorlesebuch ab 5 Jahren).

Charakterologie eines Großstädters: „Karlsson vom Dach“ von Astrid Lindgren

Da wir vor kurzem in die Großstadt umgezogen sind, wollte ich unserem Sohn gerne Geschichten vorlesen, die in einer urbanen Umgebung spielen. Bei Astrid Lindgren bin ich fündig geworden. „Karlsson vom Dach“ ist ein sehr interessanter Großstadttext, der ein heimeliges Gefühl vermittelt. Im Buch gibt es mehrere Stellen, in denen das Häusermeer schön beschrieben wird, zum Beispiel im Kapitel „Karlsson fällt ein, dass er Geburtstag hat“.

Juniabende in Stockholm sind mit nichts anderem in der Welt zu vergleichen. Nirgendwo leuchtet der Himmel in einem so seltsamen Licht, nirgendwo ist die Dämmerung so zauberhaft und so lieblich und so blau. Und in dieser blauen Dämmerung ruht die Stadt auf ihren fahlen Wassern, so als wäre sie aus irgendeiner alten Sage emporgestiegen und wäre überhaupt nicht wirklich. Solche Abende sind für einen Weckenschmaus auf Karlssons Treppenvorplatz wie geschaffen. Meistens merkte Lillebror weder vom Licht des Himmels etwas noch von einer zauberischen Dämmerung und Karlsson seinerseits scherte sich überhaupt nicht darum. Als sie nun aber hier so beisammensaßen und Saft tranken und Wecken aßen, da empfand zum Mindesten Lillebror, dass dieser Abend mit keinem anderen zu vergleichen war. Und Karlsson merkte, dass Mamas Wecken mit keinen anderen Wecken zu vergleichen waren. (S. 282)

Mit mythologisierendem Vokabular beschreibt der Erzähler die Stimmung in der großen Stadt und man könnte meinen, er fühlt sich wohl in dieser Umgebung. Wenn da nicht die Hauptfigur wäre: Karlsson vom Dach. Der „schöne, grundgescheite, gerade richtig dicke Mann in seinen besten Jahren“ mit einem kleinen Propeller auf dem Rücken und einem gemütlichen Häuschen auf dem Dach, gleich neben dem Schornstein, polarisiert und provoziert den Leser und seine Umwelt ohne Unterlass. Mit seinen nervigen Eigenschaften stellt er den Prototyp des Großstadtbewohners dar, wie er seit der Urbanisierung Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Texten und soziologischen Abhandlungen entworfen wurde. Er ist dominant, arrogant, aufschneiderisch, egoistisch, materialistisch, unzuverlässig, will immer nur Spaß haben. Kurz: Er ist ein krasser Individualist, genauso so, wie Georg Simmel den Großstädter in seinem für die Großstadtsoziologie grundlegenden Vortrag „Die Großstädte und das Geistesleben“, das erste Mal veröffentlicht 1903, beschrieben hat:

Zunächst die Schwierigkeit, in den Dimensionen des großstädtischen Lebens die eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. – Wo die quantitative Steigerung von Bedeutung und Energie [in der Großstadt] an ihre Grenze kommen, greift man zu qualitativer Besonderung, um so, durch Erregung der Unterschiedsempfindlichkeit, das Bewusstsein des sozialen Kreises irgendwie für sich zu gewinnen: was dann schließlich zu den tendenziösesten Wunderlichkeiten verführt, zu den spezifisch großstädtischen Extravaganzen des Apartseins, der Kaprice, des Pretiösentums, deren Sinn gar nicht mehr in den Inhalten solchen Benehmens, sondern nur in seiner Form des Andersseins, des Sich-Heraushebens und dadurch Bemerklichwerdens liegt – für viele Naturen schließlich noch das einzige Mittel, auf dem Umweg über das Bewusstsein der anderen irgend eine Selbstschätzung und das Bewusstsein einen Platz auszufüllen, für sich zu retten. (Online-Ausgabe des Textes: http://socio.ch/sim/verschiedenes/1903/grossstaedte.htm)

Einige weitere Eigenschaften, die Simmel dem Großstädter zuschreibt, treffen dann aber nicht auf Karlsson zu und somit bekommt der Leser eine Chance, die Nervensäge lieb zu gewinnen. So kann man ihn wohl kaum als blasiert und reserviert bezeichnen. Der kleine Mann sprudelt meist über von Ideen und schafft es, die Kinder für sich zu gewinnen. Zudem beweist er viel Geschick im Überlisten der Schurken in der großen Stadt. Und weil er Lillerbrors Freund ist, der dem Leser als ein durch und durch sympathischer Junge erscheint, lernt man die Nervensäge schätzen, genauso wie die Eltern und Geschwister in der Familie Svantesson. Und das ist die schöne Botschaft des Buches: Auf den zweiten Blick können sogar nervige Großstädter ganz nett sein!

Astrid Lindgren: Karlsson vom Dach. Zeichnungen von Ilon Wikland. Jubiläumsedition mit drei Büchern in einem Band. Verlag Friedrich Oetinger 2007. ab 8 Jahren. 9,90 Euro.

Erzähl‘ mal – mit Kamishibai

Vor Kurzem hatte ich vom japanischen Erzähltheater Kamishibai berichtet. Eine Freundin und ich, wir wollen dieses Erzähltheater nun einmal in einem Workshop mit Kindern ausprobieren. Wir sind dafür zu Gast im Kulturcafé Fincan in Berlin-Neukölln und freuen uns über Anmeldungen von Kindern ab 8 Jahren. Zur Anmeldung könnt ihr einfach eine E-Mail schreiben an: wirlesenvor@googlemail.com. Wir basteln gerade am Theater und an unserer Vorführgeschichte und haben viel Freude daran. Hier die genauen Daten zum Workshop:

Wann? am Sonntag, 09. September, 13h30 bis 17h

Wo? Kulturcafé Fincan, Altenbrakerstr. 26, 12051 Berlin-Neukölln

Was? Beim Erzähl- und Bildertheater „Kamishibai“ sollen Kinder ihrer eigenen Kreativität freien Lauf lassen, um die Geschichten aus ihren Köpfen zu locken. Als Unterstützung dienen dazu Bilder anhand derer die Geschichten improvisiert erzählt werden. Die Veranstaltung gliedert sich in zwei Teile. Zuerst können die Kinder das Erzähltheater „Kamishibai“ in einer Beispielvorführung kennen lernen. Danach gibt es einen Workshop bei dem gemeinsam eine eigene Geschichte für das Erzähltheater entwickelt und gemalt wird. Das Ergebnis des Workshops wird am Ende von den Kindern vorgeführt.

Lesung an einem Sommernachmittag: „Die Sommersprosse“ von Thomas J. Hauck und Lena Meyer

Eigentlich war heute kein Tag, um in einer Buchhandlung einer Lesung zu lauschen. Eigentlich war heute ein Tag, um an einen See zu fahren und sich dort abzukühlen. Trotzdem passte die Buchvorstellung von „Die Sommersprosse“ doch zum heutigen Tag. Vielleicht weil der Titel nach Sommer klingt. Vielleicht weil die Ilustrationen so luftig und leicht sind. Vielleicht weil die Geschichte und die Bilder nostalgische Erinnerungen wecken.

Es handelt sich doch tatsächlich um eine Liebesgeschichte, dieses Mal aber keine kitschige wie bei „Herr Anders“ von Eva Schatz und Stefanie Reich; die ich vor kurzem besprochen habe. Diese Liebesgeschichte gefällt mir richtig gut, denn es geht nicht um „Liebe auf den ersten Blick“, um die Suche nach einem perfekten Ebenbild. Es geht um Gemeinsamkeiten und Unterschiede, um die Wahrnehmung des Anderen. Tilli und Tim sind jedenfalls beste Freunde. Als Tilli eines Morgens entdeckt, dass ihr eine Sommersprosse auf der Nase fehlt, ist sie sehr traurig. Tim macht sich Sorgen um seine Freundin. Dann fällt beiden jedoch eine Lösung ein und ihre Freundschaft verändert sich.

Die Geschichte und die Bilder dazu wurden heute in der Buchhandlung „Nimmersatt“ in Berlin-Kreuzberg vorgestellt. Der Autor Thomas J. Hauck las die Geschichte und erzählte gemeinsam mit der Illustratorin Lena Meyer von der Entstehung des Buches sowie von der Zusammenarbeit mit dem österreichischen Verlag „Bibliothek der Provinz“, der es herausgebracht hat, obwohl deutschen AutorInnen auf dem österreichischen Markt normalerweise keine großen Chancen eingeräumt werden. Nach der Lesung konnten sich die Zuhörer auch die schönen Originalillustrationen von Lena Meyer ansehen, auf denen man gut die Collagetechnik sieht, die die Illustratorin angewendet hat. Die Ausstellung wird im August in Leipzig und im September in Lauf an der Pegnitz zu sehen sein. Weitere Termine für Lesungen und Ausstellungen sollen folgen.

Durch den lebendigen Vortrag von Thomas J. Hauck war die Lesung ein sehr kurzweiliges Vergnügen. Kinderbücher haben auch meistens den Vorteil, dass sie schnell vorgelesen sind. So blieb noch genügend Zeit für einen Sommergenuss: eine große Kugel Heidelbeereis!

Thomas J. Hauck und Lena Meyer: Die Sommersprosse. Bibliothek der Provinz 2011. keine Altersangabe des Verlags, ab ca. 8 Jahren. 15 Euro.

Herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag, Biene Maja!

Die Zeichentrickserie kennt wohl jeder, den Titelsong von Karel Gott auch. Aber woher kommen die Geschichten von der Biene Maja? 1912 erschien ein Kinderbuch des ehemaligen Missionskaufmanns, Verlegers, Vagabunden und Autors Waldemar Bonsels, der mit „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“ einen sensationellen Erfolg erzielte. Fortan wurden die Bücher des Schriftstellers vor allem in den 1920er Jahren massenhaft verkauft.

Die Geschichte von der Biene Maja erzählt, wie das frisch geschlüpfte, neugierige und wissensdurstige Insekt sich gegen den Alltag der Honigbienen sträubt und die Welt kennen lernen möchte. Bei ihrem ersten Flug kehrt sie nicht in den Bienenstock zurück, nistet sich in einem Baumloch ein und begegnet verschiedenen anderen Insekten. Schließlich wird sie von Hornissen gefangen genommen, kann sich aber befreien und ihr Bienenvolk vor der Gefahr durch die Hornissen warnen.Der Überfall der Feinde kann durch Majas Warnung abgewehrt werden, die kleine Biene wird zur Beraterin der Königin ernannt.

Über die Qualität dieses Kinderbuchklassikers gibt es sehr kontroverse Meinungen: Viele Leser schätzen das Buch wegen seiner Poesie, den Naturbeschreibungen und seinem pädagogischen Wert, der darin bestehen soll, dass die Begegnungen der Biene Maja mit den anderen Insekten, Gefühle wie Angst, Trauer, Freundschaft, Neugierde sehr lebendig vermitteln. Andere Leser wiederum sehen diesen pädagogischen Wert skeptisch, denn die Geschichte des Ausbruchs der Biene Maja wird am Ende durch ihre Rückkehr in den Bienenstock und ihre Eingliederung in das Volk in sehr konservative Bahnen gelenkt. Außerdem strotzt das Buch, entsprechend seinem Entstehungszeitpunkt, vor nationalistischen Phrasen. In „Die Biene Maja und ihre Abenteuer“ würde angedeutet, wohin Waldemar Bonsels sich politisch entwickelte: Er schrieb 1943 einen antisemitischen Roman, mit dem er sich den Nationalsozialisten andienen wollte.

Diesem Generalverdacht gegen die „braune Biene Maja“, der von ihrem Autor abgeleitet wird, möchte ich mich nicht anschließen. Dennoch hatte auch ich einige Bedenken bei der Lektüre des „Klassikers“. Denn so zeitlos, wie diese Bezeichnung suggeriert, ist die Geschichte und Sprache des Buchs keinesfalls. Die Beschreibungen der Insekten, Wiesen, Blumen und der Landschaft vermitteln in der Tat einen poetischen Blick auf die Natur, den ich sehr schön fand. Die Dialoge zwischen den Protagonisten erscheinen mir aber schwer verdaulich: der Umgang der Insekten untereinander ist sehr förmlich, Rede und Gegenrede holpern oft, die verhandelten Begriffe und Konzepte sind kompliziert. Auf jeden Fall sollte man nicht von der Zeichentrickserie ausgehend darauf schließen, dass die Geschichten einfach zu verstehen und niedlich wären. Im Gegenteil: Es geht teilweise recht grausam zu und der lustige und gemütliche Freund von Maja, die Honigbiene Willi, wurde auch erst später für die Fernsehserie hinzugedichtet.