Das richtige Buch zur richtigen Zeit: „Der Schiet und das Frühjahr“ von Andrus Kivirähk

DerSchietHeute freue ich mich sehr, ein Buch vorstellen zu können, das mich auf den ersten Blick begeistert hat. Es gab so einen kleinen Funken zwischen uns und es passt alles gut zusammen.

Das Buch kommt aus Estland und versammelt 14 Kurzgeschichten für kleine Leute ab 4 Jahren rund um erstaunlich lebendige und ein bisschen verrückte Gegenstände: eierlegende Socken, kannibalistische Heizungen, klammernde Jacken oder kommunizierende Eisflecken. Da steckt viel Humor in den Ideen!

Und Mitgefühl: In der Titelgeschichte beispielsweise sucht ein Hundehaufen einen Platz zum Leben und eine Partnerin. Der arme Haufen ist einsam und braucht Gesellschaft. In Berlin gibt es viele Hundehaufen, mit denen er sich zusammen tun könnte. Die Idee der Geschichte, dass er eine Löwenzahnblüte als Lebensgefährtin findet, scheint mir da aber menschenfreundlicher.

Der Willegoos-Verlag, der mir den herrlichen Band angeboten hat, wirbt damit, dass das Buch das Zeug zum Klassiker habe. Da bin ich einverstanden! Sehr einverstanden bin ich auch mit den Ansprüchen des Verlags, nachhaltige und umweltfreundliche Bücher zu produzieren. So ist „Der Schiet und das Frühjahr“ auf Recyclingpapier gedruckt, ohne Folien, mit mineralölfreien Druckfarben und hergestellt in Berlin (und nicht in China!) .

Durch meine Begeisterung bin ich nun auch ein bisschen früh in der Ankündigung, denn das Buch erscheint erst am 01. März! Aber auf den Frühling warten ja auch alle ungeduldig und in diesem Jahr wird die Geduld auch nicht auf die Probe gestellt. Also rufe ich schon mal ohne schlechtes Gewissen euch zu: Wartet auf den „Schiet und das Frühjahr“!

Andrus Kivirähk: Der Schiet und das Frühjahr. Mit Illustrationen von Meike Teichmann. Willegoos-Verlag Potsdam 2015. 14,95 Euro. Ab 4 Jahren.

Mauergeschichte(n): „Von Kaisern und Barbaren. Der Bau der Großen Chinesischen Mauer“ von Cornelia Hermanns

Wir haben im FrüMauer2hjahr eine große Reise gemacht. Zuerst waren wir einige Tage in Hong Kong, dann sind wir im Süden Chinas gereist. Neben vielen Eindrücken und Geschichten haben wir auch ein großes Interesses für die chinesische Kultur und die Geschichte des riesigen Reiches mitgebracht.

Dazu passend habe ich dann im Museumsshop des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem ein tolles Buch gefunden, das uns mehrere Wochen begleitet hat. Es erzählt die Geschichte der Großen Chinesischen Mauer – dieses Megabauwerks, das vom Weltall aus zu sehen sein soll. Eigentlich ist das Buch für einen Sechsjährigen zu komplex, dennoch hat mein Sohn es gern gehört, wenn ich vom ersten Kaiser von China Quin Shi Huangdi, von den Mongolen und anderen „barbarischen“ Völkern wie den Xiongnu und den Mandschu oder von der Ming-Dynastie vorgelesen habe.

Trotz der schwierigen Namen hat mir das Vorlesen große Freude bereitet, denn der Text ist spannend geschrieben und sehr übersichtlich gegliedert. Die Historikerin Cornelia Hermanns versteht es gut, die Daten und Fakten in Geschichten zu verpacken. Die Geschichten umklammert sie mit einer Systematik, die spannende Facetten aufdeckt. Sie erzählt nicht nur von der politik- und militärgeschichtlichen Entstehung der Mauer, sondern auch vom Leben und Sterben der Soldaten, die die Mauer bauen und bewachen mussten. Die immense Bedeutung und Grausamkeit des Bauwerks, das auch „Größter Friedhof der Welt“ genannt wird, zeigt sich so sehr anschaulich.

Der Text im Zusammenspiel mit wunderschönen Tuscheillustrationen von Gregor Körting schafft es, die fremde Kultur mit Phantasie zu verbinden. In Anlehnung an die traditionelle chinesische Malerei zeichnet der Illustrator mit sanften aber bestimmten Strichen faszinierende Bilder der fremden Kultur. Die unaussprechbaren Namen werden plötzlich vertraut und gehen fließend über die Lippen. Wer für die Namen und Begriffe Hilfe in Anspruch nehmen möchte, kann auf der Webseite des Drachenhaus-Verlags ein Glossar mit Audiodateien zur korrekten Aussprache finden. Die Autorin und der Illustrator fanden auch eine schöne Form für eine Überblickszeitleiste im Bucheinband: Ein verschlungener gemauerter Weg fasst die wichtigsten Stationen in der Geschichte der Großen Mauer zusammen.

Am letzten Wochenende stand die Berliner Mauer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Wer sich weiter mit Mauern beschäftigen möchte, dem sei dieses Sachbuch wärmstens empfohlen. Die Große Chinesische Mauer steht noch immer und erinnert an die zahlreichen Funktionen, die Mauern in der Geschichte der Menschheit haben.

Cornelia Hermanns: Von Kaisern und Barbaren. Der Bau der Großen Chinesischen Mauer. Mit Illustrationen von Gregor Körting. Esslingen: Drachenhaus-Verlag 2012. ab 12 Jahren. 22,80 Euro.

P.S. Im Programm des Drachenhaus-Verlags gibt es noch weitere Titel zur chinesischen Geschichte von Cornelia Hermanns und Gregor Körting. Wenn ich die Cover sehe, werde ich wieder ganz neugierig und fühle wie das Reisefieber und der Wissensdurst in mir wach werden.

Ein Faible für Kometen: „Im Weltraum“ vom Usborne Verlag

look_inside_space_cover_20mm_geEs scheint mir Lichtjahre her, dass ich zuletzt etwas für den Blog geschrieben habe. Nun kommt langsam die Zeit, um aufs Jahr zurück zu blicken. So möchte ich in den nächsten Wochen versuchen, mal wieder Kinderbücher vorzustellen, die uns in den letzten Monaten beschäftigt haben.

Den Anfang macht ein Sachbuch und ein aktuelles Ereignis: Am Mittwoch, dem 12. November, wird das erste Mal in der Geschichte der Raumfahrt eine Sonde auf einem Kometen landen. Philae begegnet 67P/Tschurjumow-Gerassimenko. Die Reise von Rosetta, der Muttersonde, und Philae, der Landeeinheit, zum Kometen dauerte 10 Jahre. Gesteinsproben sollen in den nächsten Monaten gesammelt werden. Die auf 67P gesammelten Daten sollen helfen, die Entstehung des Sonnensystems besser zu verstehen.

Einen ersten Einblick in das Verständnis des Weltraums bekommen Kinder ab 5  Jahren allerbestens mit dem Sachbuch „Im Weltraum“ vom Usborne Verlag, einer Übersetzung eines britischen Titels, geschrieben von Rob Lloyd Jones, illustriert von Benedetta Giaufret und Enrica Rusiná. Das Buch bedient sich des Klappenprinzips, um viele Informationen spannend aufzubereiten. Und es gibt wirklich viele Informationen zu entdecken! Mit über 70 Klappen sind die Fakten so verpackt, dass nicht der Eindruck entsteht, man müsste viel Text lesen. Hinter jeder Klappe verstecken sich zwei oder drei weitere Klappen. So wird das Prinzip des Wissenserwerbs sehr anschaulich. Als ich begann, das Buch vorzulesen, meinte ich, in 10 Minuten fertig zu sein. Pustekuchen! Eine Stunde dauerte der Spaß!

Und es machte viel Spaß, mein Wissen über Planeten und Sterne aufzufrischen, sowie Neues zu lernen. Beim Vorlesen der Fakten über die gigantischen und unbegreifbaren Dimensionen des Weltraums werde ich immer ganz ehrfürchtig und staune: Eine Rakete müsste sechs Monate fliegen, um zu unserem nächst gelegenen Planeten, dem Mars, zu gelangen! Die leuchtenden Farben der Planeten auf schwarzem Untergrund machen mir gute Laune.

Leider sind die Bilder aus dem wirklichen Weltraum meist eher grau in grau. Trotzdem werden wir uns am nächsten Mittwoch die Live-Übertragung des Ereignisses im Planetarium ansehen. Wir drücken den Wissenschaftlern fest die Daumen, dass die Misson gelingt!

Usborne Verlag / Autorenteam: Aufklappen und Entdecken: Im Weltraum. London 2014. 9,95 Euro. ab 5 Jahren.

Vorurteile und Stereotype in Kinderklassikern: „Pippi Langstrumpf“ von Astrid Lindgren

Pippi LangstrumpfAls Vorlesebuch steht „Pippi Langstrumpf“ bei uns gerade hoch im Kurs. Der Klassiker fasziniert mich und meinen Sohn. Der fröhliche Non-Konformismus des rothaarigen Mädchens macht mir viel Spaß. Anknüpfend an die Debatte um Rassismus und Stereotype in Kinderbücher (meist am Beispiel von Otfried Preußler und Michael Ende) hatte ich bei der Lektüre an einigen Stellen aber auch Bauchschmerzen, denen ich heute mal auf den Grund gehen möchte.

Bei der Boell-Stiftung fand ich auch einige Argumente für mein Unbehagen. In einem Artikel beschreibt die Autorin Olenka Bordo fundiert, wie Vorurteile in der Kinderliteratur wirken.  Astrid Lindgrens Werk „Pippi Langstrumpf“, das 1944 in Schweden und 1949 erstmals in Deutschland erschien, wirft sie vor, es würde Vorurteile und Stereotype vermitteln, rassistische und unreflektierte Handlungen darstellen und wäre sehr unkritisch gegenüber der Verharmlosung von historischen Ereignissen wie der Kolonialisierung.

Um ihre Argumentation zu überprüfen, habe ich mir das erste Kapitel (bzw. die erste Geschichte) des ersten Buchs genauer angesehen. Tommy und Annika sprechen das erste Mal mit Pippi, nachdem sie darüber gestaunt haben, wie Pippi aussieht (abstehende Zöpfe, Sommersprossen, weiße Zähne, selbst genähtes Kleid,  zu große Schuhe) und was sie tut (die Straße entlang gehen, zuerst mit einem Bein im Rinnstein, mit dem anderen auf dem Bürgersteig und dann läuft sie rückwärts). In ihrer ersten Unterhaltung rechtfertigt Pippi ihr ungewöhnliches Verhalten. Sie sagt:  „Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte? Übrigens will ich dir sagen, dass in Ägypten alle Menschen so gehen, und niemand findet das im Geringsten merkwürdig.“ (S. 16)

Mit dieser Antwort auf Tommys Frage, warum sie sich ungewöhnlich verhält, wird Pippis Logik eingeführt, die im weiteren Verlauf des Dialogs noch erläutert wird. Pippis Gedanken spielen dabei mit Vorurteilen und Stereotypen.  Sie spricht über Länder, in denen sie als Seeräubertochter angeblich schon war und wo sie beobachtet hat, was in anderen Kulturen aus ihrer Wahrnehmung heraus normal ist. Pippi benutzt die Andersartigkeit der Ägypter zur Rechtfertigung ihres Verhaltens gegenüber Annika und Tommy. Irgendwo hat das kleine rothaarige Mädchen scheinbar schon gelernt, dass Differenz begründet werden muss und dass der Rückgriff auf exotische Kulturen eine akzeptable Begründung darstellt. Schließlich können ihre Freunde die Behauptungen Pippis nicht überprüfen, denn sie haben Schweden noch nicht verlassen. Vielleicht regen Pippis Erzählungen aber ihre Neugier auf andere Länder an?

Bemerkenswert ist in Pippis Begründung der Satz: „Leben wir etwa nicht in einem freien Land?“ Das kleine rothaarige Mädchen erinnert Tommy und Annika daran, dass sich in Schweden jedeR so verhalten kann, wie er/sie möchte, egal woher dieses Verhalten kommt oder welcher Norm es entspricht. Der Rückgriff auf nicht-schwedische Hintergründe sollte nicht zu Diskriminierung führen.

Im weiteren Verlauf des Dialogs, der auch der Einführung der Charaktere von Tommy (der Skeptische) und Annika (die Vorsichtige) dient, wird Pippis Argumentation auf die Probe gestellt. Dabei wird das für Kinder zwischen fünf und acht Jahren sehr wichtige Thema „Wahrheit und Lüge“ aufgegriffen. Tommy bezichtigt Pippi der Lüge. Sie gibt daraufhin traurig zu, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hat. Nach einer kurzen Entschuldigung für diese nicht-gesellschaftskonforme Redeweise fährt sie unbekümmert fort, weiter Geschichten von fernen Ländern zu erzählen: „Und übrigens […] will ich euch sagen, dass es im Kongo keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag. Sie fangen früh um sieben an und hören nicht eher auf, als bis die Sonne untergegangen ist.“ (S. 17) Mit dieser klar sowohl durch den Kontext als auch den Inhalt gekennzeichneten Lüge wird deutlich markiert, wie Pippi über andere Kulturen spricht: Sie erzählt Geschichten, spinnt Seemannsgarn. In ihrem Kopf regiert die Fiktion.

Ich denke somit nicht, dass das kleine rothaarige Mädchen Stereotype  oder Vorurteile über andere Länder vermittelt. Ihre Ausführungen sind in spielerische Kontexte eingebettet und als solche gekennzeichnet. Das Spielerische ihrer Gedanken können sich die Leser der Geschichten leicht bewusst machen. Es stellt sich für mich nur die Frage, wie die RezipientInnen diesen Leseeindruck thematisieren können? Vielleicht wäre die Frage spannend: Welche Geschichte würde Pippi wohl über die Menschen in Deutschland erzählen?

Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf. Hamburg: Verlag Friedrich Oetinger 1986. Übersetzung von Cäcilie Heinig. 8,90 Euro. ab 5 Jahren.

 

 

Ein Buch, das es noch nicht gibt: „Mein kleiner Fisch“ von Julia Reiter

Mein kleiner FischVor kurzem meldete sich eine Illustratorin bei mir und sie stellte mir ein Buch vor, das es noch nicht gibt. Sie möchte es ohne die Hilfe eines Verlags drucken lassen. Mir gefiel ihre Arbeit sehr gut und so möchte ich euch ihr Projekt ans Herz legen. Hier ist der Link zur Finanzierungsseite für das Buch: http://www.startnext.de/meinkleinerfisch

Neben den schönen Aquarellen und der liebevollen Gestaltung finde ich auch die Geschichte des Buchs ganz interessant: Die Illustratorin wurde inspiriert von einem Buch aus ihrer Kindheit. Sie fand als Erwachsene die Zeichnungen langweilig und das Zusammenspiel von Text und Bildern misslungen. So wollte sie aus dieser Geschichte etwas Eigenes machen.

Dieser Gedanke gefällt mir: Welches Buch aus meiner Kindheit würde ich gerne mal neu gestalten? Was würde ich anders machen? Zwar fehlen mir die gestalterischen Mittel für so eine Aufgabe, aber als Gedankenexperiment finde ich die Vorstellung ganz spannend. Da werde ich am langen Wochenende mal mein Bücherregal durchstöbern. Und ihr? Habt ihr auch ein Lieblingsbuch aus eurer Kindheit, das ihr gerne anders gestalten würdet? Ich bin gespannt auf eure Ideen!

Julia Reiter: Mein kleiner Fisch. Noch nicht erschienen. 18 Euro. ab 4 Jahren.

Bummeleien.“Bettina bummelt“ von Elizabeth Shaw

bettina bummeltWas für ein herrliches Wort! Bummeln! Mit so schönen Wörterbuchbedeutungen: 1) schlendernd, ohne Ziel durch die Straßen spazieren gehen, 2) Lokale besuchen, 3) langsam arbeiten, trödeln, 4) nichts tun, faulenzen. Mit einer lustigen Wortgeschichte: Es kommt ursprünglich aus dem Niederdeutschen und bezeichnete das Hin- und Herschwanken einer schwingenden Glocke, die das Geräusch „bum, bum“ von sich gibt. Mit interessanten Zusammensetzungen: Bummelzug, Bummelliese, Bummelfritze, Bummelstreik, Bummelant. Was ist bloß ein Bummerl? Aha: so heißt in Österreich umgangssprachlich ein Tor im Sport – wie niedlich!

Ihr könnt lesen: Dieses Wort begeistert mich. Und passenderweise gibt es ein Kinderbuch von meiner Lieblingskindheitsautorin Elizabeth Shaw (über die ich unbedingt noch schreiben möchte, wenn ich endlich mal in diese Bibliothek mit einem hochinteressanten Buch über sie komme) über dieses Wort: „Bettina bummelt“, das ich vor einiger Zeit neu für mich entdeckt habe.

Bettina bummelt gerne auf dem Weg von der Schule nach Hause, die Mutter wartet schon mit dem Essen und ärgert sich über die Unpünktlichkeit ihrer Tochter. Um das Mädchen zu erziehen, werden in der Geschichte die Rollen vertauscht: eines Tages bummelt auch mal die Mutter (sie kauft sich einen neuen Hut – sehr extravagant). So erfährt Bettina, wie es ist, auf jemanden warten zu müssen. Diese pädagogische Botschaft nervt mich ein bisschen, denn ich mag Bummeleien sehr und finde, besonders Kinder sollten das Recht haben zu bummeln (das Mittagessen kann die Mutter ja später warm machen), genauso wie Erwachsene! Nichtsdestotrotz finde ich es toll, dass sich Elizabeth Shaw dieses Wortes angenommen hat und mit der bummelnden Bettina eine schöne Identifikationsfigur für mich geschaffen hat. In diesem Sinne ein Hoch auf das Bummelantentum!

Elizabeth Shaw: Bettina bummelt. Mit Illustrationen von Elizabeth Shaw. Dritte Auflage. Der Kinderbuchverlag 2013. 9,90 Euro. ab 4 Jahren.

Sieben Fragen im Winter: „Kennys Fenster“ von Maurice Sendak

kennys fensterMein Sohn sagte vor kurzem: „Mama, dieser Winter ist voller Geheimnisse“. Warum? Geheimnisse sind etwas sehr Schönes, wie tanzende Schneeflocken im Straßenlaternenlichtkegel, wie Schneeschichten auf graubraunen Ästen und Zweigen, die die knorrigen Arme der Baumriesen leicht und luftig wirken lassen.

Sehr geheimnisvoll ist auch das Buch „Kennys Fenster“ von Maurice Sendak, dem laut Klappentext berühmtesten Kinderbuchillustrator des 20. Jahrhunderts, dessen Klassiker „Wo die wilden Kerle wohnen“ mich tief berührt hat. In „Kennys Fenster“ bekommt ein Junge während eines Traums die Aufgabe, Antworten auf sieben Fragen zu finden. Als er aufwacht, versucht Kenny zusammen mit seinem Teddy Bucky, seiner Hündin Baby, einer Ziege und zwei Zinnsoldaten die Fragen bzw. Rätsel zu beantworten. Die Lösungen, Antworten und weitere Fragen findet er und mit ihm der Leser ganz beiläufig, im Alltag, wie z.B. bei der Frage: „Was schaut nach drinnen und nach draußen?“

Kenny beobachtet vom Himmel fallende Schneeflocken am Fenster. „Ich möchte gerne wissen, warum Schnee da oben schmutzig aussieht und hier unten sauber.“ Das Fenster gibt dem Jungen die Möglichkeit, die Natur zu beobachten. Dann wendet er sich aber seinen Spielkameraden, dem Teddy und den Zinnsoldaten zu. Als es zum Streit beim Spiel kommt, bricht die Sonne durch die Wolken, das Fenster lässt die Winterluft ins Zimmer. Kenny sieht im Schnee spielenden Kinder zu und beobachtet ein Baby, dessen Vater ihm die Schneeflocken zeigen möchte. Schließlich kommt Kennys Freund vorbei und lädt ihn zum Spielen nach Draußen ein. Das Fenster bekommt in dieser Episode verschiedene Rollen: Spiegel der Wissbegierde des Jungen, Rahmen für die Neugierde auf die Welt, Ablenkungsinstrument, Mittel zur Kontaktaufnahme. Es schaut nach drinnen und nach draußen.

Ähnlich komplex wie diese geheimnisvolle Frage und doch immer mit einem Blick, der am Alltag von Kindern orientierten ist, werden auch die anderen sechs Aufgaben gelöst. Es geht dabei um Liebe, Konflikte mit Freunden, Wünsche und Träume.

Maurice Sendak: Kennys Fenster. Aladin Verlag Hamburg. ab 5 Jahren. 14,90 Euro.

Wenn Michael Ende noch am Leben wäre …: „Jim Knopf findet’s raus“ von Beate Dölling, nach Motiven von Michael Ende

jim knopf findets rausUnsere „Jim-Knopf- und-Lukas-der-Lokomotivführer“-Leidenschaft ist ungebrochen. Neulich bekam sie neues Futter durch einen Bibliotheksfund. Im Band „Jim Knopf findet’s raus“ nimmt die Autorin Beate Dölling den erklärenden Duktus der Original-Bände auf und erläutert in 24 Kapiteln Naturerscheinungen, auf mal mehr, mal weniger spannende Art und Weise. Jim Knopf bestürmt seine Freunde (Frau Waas, Alfons, der Viertel-vor-Zwölfte, Li Si, Herrn Ärmel) mit Fragen, wie z.B.: Brauchen Lokomotiven auch mal Ferien? Wie entstehen Vulkane? Und warum haben nicht alle Menschen dieselbe Hautfarbe?

Beim Nachdenken über dieses Buch schossen mir zahlreiche Fragen durch den Kopf: Wie hat Michael Ende eigentlich auf den Erfolg von „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ reagiert? Zuerst wurde er ja angefeindet für seine Werke,. Aus diesem Grund sei er nach Italien gezogen, so ist bei Wikipedia zu lesen. Ob es Pläne für Fortsetzungen gab? Die Geschichte würde sich schon dafür eignen, finden mein Sohn und ich. Wir hätten auch schon einen Titel: „Die zwölf Unbesiegbaren“. Wie hätte Michael Ende auf die zahlreichen Spin-Offs aus seiner Geschichte, die im Moment auf dem Markt sind, reagiert?

Ein bisschen schade ist es schon, dass es keine Fortsetzungen von unserer Lieblingsgeschichte gibt – wiewohl ich die zahlreichen Serien, die den Kinderbuchbereich dominieren, eigentlich blöd finde. Vielleicht liegt ja darin gerade der Reiz der Figuren: Jim Knopf und Lukas sind einmalig und ihre Geschichte nutzt sich nicht ab durch das Kopieren und Ausschlachten in Fortsetzungen.

Nun müssen wir eben vorlieb nehmen mit einer bemühten Erzählerin, die zwar die Motive und Ideen von Michael Ende aufnimmt, an dessen erzählerischen Qualitäten aber bei weitem nicht heranreicht.

Michael Ende, Beate Dölling: Jim Knopf findet’s raus. Geschichten über Lokomotiven, Vulkane und Scheinriesen. Thienemann Verlag 2010. ab 6 Jahren. 14,90 Euro.

Heute kein Frühjahrsputz: „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame

wind in den weidenSo beginnt der wunderbare englische Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame, erschienen 1908, den ich euch unbedingt ans Herz legen möchte. Ich hatte damit in den letzten Tagen ein großes Lesevergnügen:

„Den ganzen Vormittag hatte der Maulwurf geschuftet: In seinem kleinen Haus war der Frühjahrsputz ausgebrochen. Zuerst mit Besen und Staubtuch, dann auf Leitern und Stühlen und drittens mit Pinsel und Tünche. […] Der Frühling rumorte oben in der Luft herum und unten in der Erde herum und rund um den Maulwurf herum. Er drang in sein dunkles und bescheidenes Haus und brachte seine eigenen Launen mit: die Unzufriedenheit der Götter und die Sehnsucht. So kann es nicht erstaunen, wenn der Maulwurf plötzlich den Pinsel zu Boden schleuderte, ‚Schwachsinn!‘ und ‚Mit  mir nicht!‘ sagte sowie ‚Zum Henker mit dem Frühjahrsputz‘ und aus dem Haus schoß ohne auch nur einen Mantel überzuziehen.“

Der Maulwurf wältzt sich dann auf einer Wiese. Er fühlt sich prächtig: „Sein Gewissen verhielt sich ganz ruhig: Es quälte ihn nicht und flüsterte ihm nicht ‚Tünche!‘ ins Ohr. Statt dessen fühlte er sich prächtig – als einziger Faulpelz unter diesen tüchtigen Mitbürgern. In den Ferien ist vielleicht nicht das Nichtstun am schönsten, sondern: das Anderen-Leuten-beim-etwas-tun-Zusehen.“

Der Maulwurf geht zum Fluss, den er noch nie zuvor gesehen hat: „Er bebte und bibberte, glänzte und glibberte und sprühte Funken, er rauschte und strudelte, schwatzte und blubberte. Der Maulwurf war bezaubert, verhext und angetan.“

Am Fluss lernt er die Wasserratte kennen, die beiden werden Freunde und erleben einige Abenteuer mit dem adligen Kröterich, der ein Faible für schnelle Autos hat und durch diese Schwäche in große Schwierigkeiten gerät.

Im Laufe der Geschichte werden die schönen Stellen, die im ersten Kapitel so leuchten und begeistern, weniger. Die zahlreichen Charakterstudien von Tieren und die Beschreibung ihres höflichen, oft konflikthaften, aber sehr freundschaftlichen Umgangs miteinander bereiten dennoch viel Vergnügen. Und immer wieder sind schöne, poetische Naturbeschreibungen mit zahlreichen Wörtern, denen man in der Alltagssprache selten begegnet, eingestreut, die eine große Freude an Natur und Beobachtung vermitteln.

Ich habe eine antiquarische Ausgabe von 1973, übersetzt von Harry Rowohlt, mit Bildern von John Burningham, dessen Zeichenstil mich sehr interessiert. Noch schöner sieht aber auch die Ausgabe vom Kein und Aber Verlag von 2004 aus, ebenso in der Übersetzung von Harry Rowohlt, mit Originalillustrationen von E.H. Shepherd, der auch „Pu, der Bär“ bebildert hat. Ein prachtvolles Buch, auch ohne Frühjahrsputz!

Kenneth Grahame: Der Wind in den Winden. Ein Roman für Kinder. Deutsch von Harry Rowohlt. Kein und Aber Verlag Zürich 2004. ab 8 Jahren. 24,80 Euro.

P.S.: Es gibt zahlreiche Adaptionen, Verkürzungen, Auszüge, Varianten und auch Verfilmungen. Die Literaturwissenschaftlerin in mir würde immer auf das ungekürzte Original zurückgreifen.

Statt fliegen: Bahn fahren!

leselokIm letzten Beitrag ging es ums Fliegen – heute ums Bahnfahren und das Vorlesen. Wir sind leidenschaftliche Bahnfahrer und haben schon tausende Kilometer in Zügen zurückgelegt. Das Vorlesen gehört immer dazu! Mein persönlicher Rekord liegt bei 60 Seiten aus „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ am Stück während einer fünfeinhalbstündigen Bahnfahrt.

Schon lange brennt mir deshalb ein Artikel über die „Leselok“, das Kindermagazin der Bahn, (hier ein Link zu einer älteren Ausgabe) unter den Nägeln, die wir seit ca. 1,5 Jahren kennen und die unser Sohn sich bei jeder Zugfahrt mit dem ICE im Bordrestaurant holen möchte. Im Restaurant gib es dann meist noch ein Geschenk dazu. Die Marketing-Strategie der Bahn funktioniert in diesem Fall allerbestens. Eis, Smoothies, Buntstifte oder eine Spielzeugeisenbahn haben schon manche Fahrt kurzweiliger gestaltet.

Die Texte in der „Leselok“ muss ich meist mehrere Male vorlesen und oft fand ich die Themen selbst auch ganz interessant: Wie wird ein ICE repariert und modernisiert? Welche Zugtypen gibt es? Was passiert bei den Zugüberprüfungen in den Eisenbahnwerkstätten? Da überdeckte meine Freude über den Wissenszuwachs das dumpfe Gefühl der Manipulation meines Kindes (die ich als Elternteil auszubaden habe, wenn mein Kind quengelnd im Supermarkt vor dem Smoothies-Regal steht).

In der letzten Ausgabe (02/2013 – Titel: „Bahn frei für Kinder“) wurde es mir dann aber ein bisschen zu viel: Im Artikel über die Zugbegleiterin ging es zu einem großen Teil darum, was man alles im ICE kaufen kann – es gibt nämlich jetzt ein Kindermenü im Bordbistro. Ich selbst habe noch nie etwas im Bordrestaurant gegessen – da schrillen bei mir alle Zu-Teuer-Alarmglocken auf einmal, das liegt außerhalb meines geistigen und finanziellen Horizonts. Im Zug hat man doch sein Proviant dabei! Und so kam ich mir reichlich merkwürdig vor beim Vorlesen und die Werbung fürs Kindermenü habe ich mit dem Arm immer abgedeckt, damit mein Sohn nicht auf „dumme Gedanken“ kommt.

Dafür machte die Leseprobe mir ausnahmsweise mal wirklich Lust auf ein Buch: „Sommer ist barfuß“ von Anna Herzog mit prima Illustrationen von Susanne Göhlich erschien mir witzig und interessant. Sehr schön fand ich auch den Comic mit dem kleinen ICE, den es zum ersten Mal gab. So kann es weitergehen mit der „Leselok“ – ohne zu viel Konsumierungs- und Eigenwerbung, die nervt. Denn eigentlich ist das Bahnfahren an sich ja schon schön genug, bei unserem Sohn muss man dafür keine Werbung mehr machen.